Hastig korrigierte Cassie sich.
„Ich habe eine ältere Schwester. Ihr Name ist Jacqui. Sie hat meinem Dad Paroli geboten und mich beschützt, wenn es Streit gab.“
Antoinette nickte zustimmend.
„Du hast heute Abend meine Seite ergriffen, das hat noch niemand vorher getan. Danke.“
Sie sah Cassie mit ihren großen, blauen Augen an und Cassie fühlte, wie sie aufgrund dieser unerwarteten Dankbarkeit einen Kloß im Hals bekam.
„Dafür bin ich hier“, sagte sie,
„Tut mir leid, dass ich dich durch die Brennnesseln geschickt habe.“ Sie schielte auf die Quaddeln an Cassies Händen, die noch immer dick und entzündet waren.
„Das ist in Ordnung. Ich verstehe, dass es nur ein Witz war.“ Ihre Augen füllten sich nun mit Tränen, als sie von Verständnis und Mitgefühl überrollt wurde. Sie hatte von Antoinette nicht erwartet, ihre Schutzmauer zu öffnen und verstand genau, wie einsam und verletzlich sie sich fühlen musste. Es war furchtbar, zu denken, dass Antoinette zuvor schon verbal von Margot misshandelt worden war und niemanden gehabt hatte, der ihr den Rücken stärkte. Selbst ihr Vater hatte sich bewusst gegen sie gestellt.
Aber jetzt hatte sie jemanden – Cassie stand hinter ihr und würde sie unterstützen, egal was es kostete. Der Tag war kein völliges Desaster gewesen, wenn es bedeutete, dass sie es geschafft hatte, diesem schwierigen und problembehafteten Kind näherzukommen.
„Versuche jetzt zu schlafen. Ich bin mir sicher, dass morgen früh alles besser aussieht.“
„Ich hoffe es. Gute Nacht, Cassie.“
Cassie schloss die Türe hinter sich, schniefte heftig und wischte sich dann die Nase am Ärmel ab. Sie war überanstrengt und merkte jetzt, wie die Gefühle sie übermannten. Sie eilte den Gang entlang, nahm sich ihren Schlafanzug und begab sich dann zur Dusche.
Als sie unter dem dampfenden Wasserstrahl stand, erlaubte sie sich endlich, die Tränen fließen zu lassen.
* * *
Obwohl das heiße Wasser ihre Emotionen beruhigt hatte, bemerkte Cassie bald, dass ihre Haut erneut in Flammen aufgegangen war. Die Nesselstiche begannen, unerträglich zu jucken. Sie rieb sich hart mit dem Handtuch ab, um dem Jucken Herr zu werden, sorgte aber dadurch lediglich dafür, dass der Ausschlag sich ausbreitete.
Endlich im Bett, fühlte sie sich so unwohl, dass sie nicht einschlafen konnte. Ihr Gesicht und ihre Arme klopften und brannten. Kratzen brachte nur temporäre Besserung und verschlimmerte den Schmerz langfristig sogar.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sie ohne Erfolg versucht hatte, zu schlafen, gab sich Cassie schließlich geschlagen. Sie brauchte etwas, um ihre Haut zu beruhigen. Das Schränkchen im Duschraum hatte nur einige essentielle Dinge enthalten, aber im Badezimmer hinter Ellas Schlafzimmer hatte sie einen größeren Medizinschrank gesehen. Vielleicht fand sie dort etwas zur Linderung.
Sie lief leise zum Badezimmer, öffnete den Holzschrank und war erleichtert, zu sehen, dass er mit Tuben und Fläschchen gefüllt war. Es musste etwas für Ausschläge geben. Sie las die Labels und kämpfte mit den komplizierten Fremdworten – sie war nervös, mit der falschen Arznei ihre Symptome nur noch zu verschlimmern.
Galmei Lotion. Sie erkannte die Farbe und den Geruch, obwohl das Label anders aussah. Das würde ihre Haut beruhigen.
Sie schüttete sich etwas Flüssigkeit in die offene Hand und rieb sich großzügig damit ein. Sofort spürte sie die kühlende Erleichterung. Sie stellte die Flasche zurück und schloss den Schrank.
Als sie sich umdrehte, um zu ihrem Zimmer zurückzugehen, hörte sie ein Geräusch und blieb stehen.
Ein derber Schrei, dann ein dumpfes Rufen.
Das musste Marc sein. Er war aus dem Bett gestiegen und stiftete in Ellas Zimmer Unruhe.
Sie eilte den Gang entlang, realisierte aber nach nur wenigen Schritten, dass diese Seite des Hauses ruhig war. Die Kinder schliefen.
Da hörte sie es erneut – ein Krachen, ein Stoßen und ein weiterer Schrei.
Cassie erstarrte. Brach jemand in das Haus ein? Ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren, als sie an all die Schätze dachte, die sich hier befanden. Zuhause in den USA hätte sie sich in einem Zimmer eingeschlossen und die Polizei gerufen. Aber es gab kein Telefonnetz. Sie musste Pierre alarmieren, die Geräusche schienen sowieso aus dessen Richtung zu kommen.
Mit einer Waffe würde sie sich mutiger fühlen. Sie betrachtete ihr Zimmer. Vielleicht konnte sie den eisernen Schürhaken, der neben dem Kamin stand, verwenden. Es war nicht viel, aber besser als nichts.
Mit dem Schürhaken fest in der Hand lief Cassie auf Zehenspitzen den Gang entlang. Sie ging um die Ecke und stand schließlich vor einer geschlossenen Holztür.
Das musste das Elternschlafzimmer sein – und die Geräusche kamen aus dem Inneren.
Cassie lehnte den Schürhaken gegen die Wand, sodass er leicht zu erreichen war, wenn sie ihn brauchte. Dann beugte sie sich nach vorne und schielte durch das Schlüsselloch.
Das Licht war an. Ihr Blickfeld war eingeschränkt, aber sie konnte eine Person sehen – nein, zwei. Da war Pierre. Sein dunkles Haar glänzte im Licht. Aber was tat er mit seinen Händen? Er hatte sie um etwas gelegt, das er gewaltsam schüttelte. Ein weiterer klagender, würgender Schrei ertönte und sie atmete scharf ein, als ihr klar wurde, dass er den Hals einer Frau umklammert hielt.
Cassies Herz klopfte, als sie die Szene übersetzte, die sie durch das kleine Loch in der Tür beobachten konnte: Pierre war dabei, Margot umzubringen.
Kapitel neun
Cassie stand ruckartig auf. Adrenalin floss durch ihre Adern, als sie die tödliche Szene gedanklich noch einmal abspielte. Starke Hände um einen blassen Hals; panische, würgende Schreie. Sie hatte noch etwas anderes gesehen. Etwas buntes, das sie nicht ausmachen hatte können.
Sie musste um Hilfe rufen – und zwar schnell.
Doch wen? Sie kannte nur die Hauswirtschafterin und hatte keine Ahnung, wo sie sie finden konnte. Wenn sie ihre Zeit damit verschwendete, nach ihr zu suchen, würde Margot sterben. So einfach war das.
Cassie musste selbst etwas unternehmen.
Sie könnte in das Zimmer stürmen und lauthals schreien, um es der blonden Frau durch eine Ablenkung zu ermöglichen, sich zu befreien.
Der Gedanke machte ihr Angst, aber sie versuchte, sich einzureden, dass sie keine andere Wahl hatte. Selbst wenn sich ihre Beine in Wackelpudding und ihre Stimme in ein klägliches Piepsen verwandelten – sie musste es versuchen, sie musste mutig sein.
Als sie nach der Türklinke greifen wollte, hörte sie ein weiteres Geräusch und hielt abrupt inne.
Es war das tiefe Stöhnen der Lust.
Zögerlich beugte sich Cassie nach vorne und schielte erneut durch das Schlüsselloch.
Als sie ihren Kopf hin und her bewegte, um das Beste aus dem eingeschränkten Sichtfeld zu machen, erkannte sie einen bunten Schal. Margots Handgelenke waren zusammengebunden und der Schal an eine Messingstange befestigt, die zum Kopfende des Bettes gehören musste.
Cassie keuchte auf, als sie realisierte, was wirklich vor sich ging.
Es war kein Mord, sondern ein sexuelles Stelldichein – dunkel, gewaltsam und ausgedehnt. Sie konnte sehen, dass Margot versuchte, sich zu befreien. Dies war kein sexy Experiment, sondern sah geradezu gefährlich aus. Und sie war sich absolut nicht sicher, ob es einvernehmlich war, denn Margot schien kein williger Partner zu sein. Vielleicht bestrafte Pierre sie für ihren Ausbruch beim Abendessen oder nutzte diesen zumindest als Entschuldigung für das, was er jetzt aufführte.
Cassie versuchte, sich davon zu überzeugen, dass dies eine Privatangelegenheit war, die sie nichts anging – egal, wie furchtbar es auch wirken mochte. Wenn Pierre oder Margot herausfänden, dass sie ihnen dabei zugesehen hatte, säße sie so richtig in der Klemme. Und sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, was geschehen würde, wenn eines der Kinder sie dabei beobachten würde, durchs Schlüsselloch zu schielen.