Caitlin war überrascht darüber, wie jung er war. Er hatte dichtes blondes Haar, einen blonden Bart und hellblaue Augen. Er lächelte, und sie konnte die Sonnenfalten auf seinem Gesicht sehen, um seine Augen herum, und konnte die Wärme und Güte von ihm ausstrahlen spüren.
Er nahm den übervollen Eimer, und trotz des Schweißes auf seiner Stirn, trotz der Tatsache, dass er durstig wirkte, drehte er sich herum und goss den ersten Krug Wasser in den Trog am Fuß des Brunnens. Die Schafe drängten sich heran, blökend und einander aus dem Weg schubsend, während sie tranken.
Caitlin überkam das seltsamste Gefühl, dass dieser Mann vielleicht etwas wusste, dass er vielleicht aus gutem Grund ihren Weg gekreuzt hatte. Wenn Jesus in dieser Zeit lebte, überlegte sie, vielleicht hatte dieser Mann dann von ihm gehört?
Caitlin verspürte einen Schub von Nervosität, als sie sich räusperte.
„Entschuldigung?“, fragte sie.
Der Mann drehte sich zu ihr herum und blickte sie an, und sie konnte die Intensität seiner Augen spüren.
„Wir sind auf der Suche nach jemandem. Ich frage mich, ob Sie vielleicht wissen, ob er hier lebt.“
Der Mann kniff die Augen zusammen, und Caitlin bekam dabei das Gefühl, als würde er direkt durch sie sehen. Es war unheimlich.
„Er lebt“, antwortete der Mann, als würde er ihre Gedanken lesen. „Aber er ist nicht länger an diesem Ort.“
Caitlin konnte es kaum glauben. Es war also wahr.
„Wohin ist er gegangen?“, fragte Caleb. Caitlin hörte die Eindringlichkeit in seiner Stimme und konnte spüren, wie dringend er es wissen wollte.
Der Mann richtete seinen Blick auf Caleb.
„Na, nach Galiläa natürlich“, erwiderte der Mann, als wäre das offensichtlich. „Ans Meer.“
Caleb kniff die Augen zusammen.
„Kapernaum?“, fragte Caleb vorsichtig.
Der Mann nickte zur Antwort.
Calebs Augen weiteten sich verstehend.
„Viele Anhänger sind auf dem Pfad“, sagte der Mann kryptisch. „Suchet, so werdet ihr finden.“
Der Hirte senkte plötzlich den Kopf, wandte sich um und ging davon, die Schafe hinter ihm her. Bald schon hatte er den Platz durchquert.
Caitlin konnte ihn nicht gehen lassen. Noch nicht. Sie musste mehr erfahren. Und sie hatte das Gefühl, dass er etwas zurückhielt.
„Warten Sie!“, rief sie aus.
Der Hirte hielt an, drehte sich herum und starrte sie an.
„Kennen Sie meinen Vater?“, fragte sie.
Zu Caitlins Überraschung nickte der Mann langsam.
„Wo ist er?“, fragte Caitlin.
„Es liegt an dir, das herauszufinden“, sagte er. „Du bist diejenige, die die Schlüssel trägt.“
„Wer ist er?“, fragte Caitlin, es unbedingt wissen wollend.
Langsam schüttelte der Mann den Kopf.
„Ich bin nur ein Hirte auf meinem Weg.“
„Aber ich weiß nicht einmal, wo ich suchen soll!“, erwiderte Caitlin verzweifelt. „Bitte. Ich muss ihn finden.“
Der Hirte fing langsam zu lächeln an.
„Stets ist der beste Ort zum Suchen genau da, wo du bist“, sagte er.
Und damit bedeckte er seinen Kopf, drehte sich herum und durchquerte den Platz. Er trat durch den Torbogen und einen Augenblick später war er verschwunden, seine Schafe hinterher.
Stets ist der beste Ort zum Suchen genau da, wo du bist.
Seine Worte hallten Caitlin durch den Kopf. Irgendwie ahnte sie, dass es mehr war als nur eine Allegorie. Je mehr sie darüber nachdachte, umso mehr hatte sie das Gefühl, es war wortwörtlich gemeint. Als wollte er ihr sagen, dass es genau hier einen Hinweis gab, wo sie stand.
Caitlin drehte sich plötzlich herum und suchte den Brunnen ab, die Stelle, an der sie gesessen hatten. Nun spürte sie etwas.
Stets ist der beste Ort zum Suchen genau da, wo du bist.
Sie kniete nieder und fuhr mit den Händen über die uralte, glatte Steinmauer. Sie fühlte sie der Länge nach ab, immer überzeugter, dass da etwas war, dass sie an einen Hinweis geführt worden war.
„Was tust du?“, fragte Caleb.
Caitlin suchte krampfhaft, untersuchte alle Risse in allen Steinen, fühlte, dass sie auf der richtigen Spur war.
Schließlich, halb um den Brunnen herum, hielt sie inne. Sie fand eine Ritze, die etwas größer war als die anderen. Gerade groß genug, um ihren Finger hineinzustecken. Der Stein um sie herum war einfach ein klein wenig zu glatt, und die Ritze einfach ein klein wenig zu groß.
Caitlin fasste hinein und versuchte, ihn herauszubekommen. Bald schon fing der Stein zu wackeln an, dann bewegte er sich. Der Stein lockerte sich und ließ sich aus der Brunnenmauer ziehen. Dahinter, stellte sie erstaunt fest, lag ein kleines Versteck.
Caleb kam näher, über ihre Schulter gebeugt, als sie in die Dunkelheit hineinfasste. Sie spürte etwas Kaltes und Metallisches in ihrer Hand und holte es langsam hervor.
Sie hob ihre Hand ins Licht und öffnete sie langsam.
Sie konnte nicht glauben, was sich darin befand.
KAPITEL FÜNF
Scarlet stand mit Ruth am Ende der Sackgasse, mit dem Rücken zur Wand, und musste ängstlich zusehen, wie die fiesen Kerle ihren Hund auf sie hetzten. Augenblicke später ging der riesige wilde Hund auf sie los, knurrte und zielte direkt auf ihre Kehle. Alles ging so schnell, dass Scarlet kaum wusste, was sie tun sollte.
Bevor sie reagieren konnte, fauchte Ruth plötzlich und stürzte sich auf den Hund. Sie sprang in die Luft und traf auf halber Strecke auf den Hund, und versenkte ihre Zähne in seinem Hals. Ruth landete auf ihm und drückte ihn zu Boden. Der Hund muss doppelt so groß wie Ruth gewesen sein, und doch hielt Ruth ihn mühelos fest und ließ ihn nicht hochkommen. Sie drückte mit aller Kraft ihre Zähne zusammen und schon bald hörte der Hund auf, sich zu wehren, und war tot.
„Du kleines Miststück!“, schrie der Anführer wütend.
Er sprang aus der Gruppe hervor und ging direkt auf Ruth los. Er hob einen Stock, der an einem Ende zu einer Speerspitze geschnitzt war, und schlug damit direkt auf Ruths ungeschützten Rücken zu.
Scarlets Reflexe setzten ein und sie sprang in Aktion. Ohne überhaupt nachzudenken lief sie auf den Jungen los und fing seinen Stock in der Luft ab, knapp bevor er Ruth damit traf. Dann zog sie ihn an sich, holte aus und trat ihm kräftig in die Rippen.
Er beugte sich vornüber und sie trat erneut zu, diesmal ins Gesicht mit einem Rundum-Tritt. Es wirbelte ihn herum und er landete mit dem Gesicht voran auf dem Steinboden.
Ruth drehte sich herum und ging auf den Trupp Jungs los. Sie sprang hoch in die Luft und bohrte ihre Zähne in den Hals eines der Jungen, und drückte ihn zu Boden. Somit blieben nur noch drei von ihnen übrig.
Scarlet stand da, ihnen zugewandt, und plötzlich durchzog sie ein neues Gefühl. Sie fühlte sich nicht länger ängstlich; sie wollte nicht länger vor diesen Jungen davonlaufen; sie wollte sich nicht länger zusammenkauern und verstecken; sie wollte nicht länger von Mama und Papa beschützt werden.
Etwas in ihr schaltete um, als sie eine unsichtbare Linie überschritt, einen Knackpunkt. Sie fühlte, zum ersten Mal in ihrem Leben, dass sie niemand anderen brauchte. Alles, was sie brauchte, war sie selbst. Anstatt den Moment zu fürchten, genoss sie ihn nun.
Scarlet spürte, wie sie von Wut durchflossen wurde, die aus ihren Zehenspitzen aufstieg, durch ihren Körper, bis in die Haarspitzen. Es war eine elektrische Emotion, die sie nicht verstand, eine, die sie noch nie zuvor erlebt hatte. Sie wollte nicht länger vor diesen Jungs davonlaufen. Sie wollte auch nicht, dass sie davonkamen.
Nun wollte sie Rache.
Während die drei Jungs dastanden und schockiert starrten, griff Scarlet an. Alles ging so schnell, dass sie es kaum verarbeiten konnte. Ihre Reflexe waren so viel schneller als die der Jungs, als würden sie sich in Zeitlupe bewegen.
Scarlet sprang in die Luft, höher als je zuvor, und trat den Jungen in der Mitte mit beiden Füßen in die Brust. Er flog rücklings wie eine Kanonenkugel durch die Gasse, bis er in die Mauer krachte und zusammenbrach.