„Was meinst du damit?“, fragte Cailtin neugierig. „Wie würde es sich anfühlen?“
„Ich kann es nicht erklären. Aber du würdest es wissen. Es ist seine Energie. Sie ist anders als alles, was du je zuvor erlebt hast.“
Plötzlich kam Caitlin ein Gedanke.
„Bist du ihm je tatsächlich begegnet?“, fragte sie.
Caleb schüttelte langsam den Kopf.
„Nein, nicht aus der Nähe. Einmal war ich zur gleichen Zeit in der gleichen Stadt. Und die Energie war überwältigend. Anders als alles, was ich zuvor je gefühlt habe.“
Wieder einmal staunte Caitlin darüber, was Caleb bereits alles gesehen hatte, all die Zeiten und Orte, die er erlebt hatte.
„Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden“, sagte Caleb. „Wir müssen herausfinden, welches Jahr es ist. Aber das Problem damit ist natürlich, dass bis lange nach Jesus' Tod niemand die Jahre gezählt hat, wie wir es tun. Immerhin basiert unser Kalenderjahr auf dem Jahr seiner Geburt. Und zu seinen Lebzeiten zählte niemand die Jahre basierend auf seinem Geburtsjahr—die meisten Leute wussten nicht einmal, wer er war! Also wenn wir die Leute fragen, welches Jahr es ist, werden sie uns für verrückt halten.“
Caleb blickte sich sorgfältig um, als würde er nach Hinweisen suchen, und Caitlin tat es ihm gleich.
„Ich habe schon das Gefühl, dass er in dieser Zeit lebt“, sagte Caleb langsam. „Nur nicht an diesem Ort.“
Caitlin betrachtete das Dorf mit neuem Respekt.
„Aber dieses Dorf“, sagte sie, „es scheint so klein, so bescheiden. Es ist nicht wie eine große, biblische Stadt, wie ich sie mir vorgestellt hätte. Es sieht nicht anders aus als jede beliebige Wüstenstadt.“
„Du hast recht“, antwortete Caleb, „aber so ist der Ort, an dem er lebte. Es war nicht irgendein großartiger Ort. Es war hier, unter diesen Leuten.“
Sie gingen weiter und bogen schließlich um eine Ecke, die sie auf einen kleinen Platz in der Dorfmitte führte. Es war ein schlichter kleiner Platz, um den herum kleine Gebäude standen und in dessen Mitte sich ein Brunnen befand. Caitlin blickte sich um und entdeckte ein paar ältere Herren im Schatten sitzen, Spazierstöcke haltend, auf den leeren, staubigen Dorfplatz starrend.
Sie gingen auf den Brunnen zu. Caleb drehte an der rostigen Kurbel, und langsam zog das verwitterte Seil einen Eimer Wasser hoch.
Caitlin fasste hinein, nahm das kalte Wasser mit hohlen Händen auf und spritzte es sich ins Gesicht. Es fühlte sich in der Hitze so erfrischend an. Sie bespritzte ihr Gesicht erneut, dann ihr langes Haar, und kämmte es mit den Fingern. Es war staubig und fettig, und das kalte Wasser fühlte sich himmlisch an. Sie würde alles für eine Dusche geben. Dann beugte sie sich vor, nahm noch mehr Wasser mit den Händen auf und trank es. Ihre Kehle war ausgetrocknet, und es war genau, was sie brauchte. Caleb tat es ihr nach.
Schließlich lehnten sich beide an den Brunnen und betrachteten den Platz. Es schien keine besonderen Gebäude zu geben, keine besonderen Kennzeichnungen oder Hinweise darauf, wohin sie gehen sollten.
„Also wohin jetzt?“, fragte sie schließlich.
Caleb blickte herum, blinzelte ins Sonnenlicht und hielt sich die Hand vor die Augen. Er wirkte genauso ratlos wie sie.
„Ich weiß es nicht“, sagte er trocken. „Ich bin überfragt.“
„An anderen Zeiten und Orten“, fuhr er fort, „schien es, als wären unsere Hinweise stets in Klostern oder Kirchen zu finden gewesen. Aber in dieser Zeitperiode gibt es keine Kirche. Es gibt kein Christentum. Es gibt keine Christen. Erst nach Jesus' Tod gründeten die Leute eine Religion nach ihm. In dieser Zeitperiode gibt es nur einen Glauben. Jesus' Glauben: Das Judentum. Immerhin war Jesus jüdisch.“
Caitlin versuchte, das alles zu verarbeiten. Es war alles so komplex. Wenn Jesus Jude war, überlegte sie, hieß das, er würde zum Beten in eine Synagoge gehen. Plötzlich hatte sie einen Einfall.
„Dann ist vielleicht der beste Ort für die Suche der Ort, an dem Jesus betete. Vielleicht sollten wir nach einer Synagoge suchen.“
„Ich glaube, du hast recht“, sagte Caleb. „Immerhin war die einzige andere ausgeübte Religion zu jener Zeit, wenn man es überhaupt so nennen kann, das Heidentum—die Anbetung von Götzenbildern. Und ich bin sicher, dass Jesus nicht in einem heidnischen Tempel beten würde.“
Caitlin blickte sich erneut in der Stadt um, kniff die Augen zusammen und suchte nach einem Gebäude, das einer Synagoge ähneln könnte. Doch sie fand keines. Es waren alles schlichte Wohnstätten.
„Ich sehe nichts“, sagte sie. „Alle Gebäude sehen für mich gleich aus. Es sind nichts als kleine Häuser.“
„Ich auch nicht“, sagte Caleb.
Es folgte eine lange Stille, während Caitlin versuchte, alles zu verarbeiten. In ihrem Kopf rasten die Möglichkeiten.
„Meinst du, dass mein Vater und das Schild irgendwie mit all dem hier in Verbindung stehen?“, fragte Caitlin. „Meinst du, dass es mich zu meinem Vater führen wird, wenn wir dahin gehen, wo Jesus war?“
Caleb kniff die Augen zusammen und schien lange Zeit nachzudenken.
„Ich weiß nicht“, sagte er schließlich. „Aber es ist eindeutig, dass dein Vater ein äußerst großes Geheimnis hütet. Ein Geheimnis nicht nur für die Art der Vampire, sondern für die gesamte Menschheit. Ein Schild, oder eine Waffe, die die Natur der gesamten Menschheit ändern wird, für alle Zeit. Es muss äußerst mächtig sein. Und es scheint mir, wenn irgendjemand dazu gedacht war, uns zu helfen, zu deinem Vater zu finden, dann würde dies jemand äußerst Mächtiger sein. Wie Jesus. Für mich würde das Sinn ergeben. Vielleicht müssen wir, um den einen zu finden, den anderen finden. Immerhin ist es dein Kreuz, das uns so viele der Schlüssel offenbart hat, die uns hierher gebracht haben. Und beinahe alle unsere Hinweise haben wir in Kirchen und Klöstern gefunden.“
Caitlin versuchte, alles zu erfassen. War es möglich, dass ihr Vater Jesus kannte? War er einer seiner Jünger? Der Gedanke daran war atemberaubend, und die geheimnisvolle Aura um ihn wurde immer tiefer.
Sie saß am Brunnen und blickte sich ratlos in dem schläfrigen Dörfchen um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie überhaupt zu suchen anfangen sollte. Überhaupt nichts stach besonders hervor. Und noch dazu wollte sie immer dringender Scarlet finden. Ja, sie wollte ihren Vater mehr als je zuvor finden; sie spürte die vier Schlüssel praktisch in ihrer Tasche brennen. Doch sie konnte keine offensichtliche Stelle erkennen, um sie einzusetzen—und es war schwer, sich auf ihn zu konzentrieren, solange sich ihre Gedanken um Scarlet drehten. Der Gedanke daran, dass sie ganz alleine da draußen war, zerriss sie in Stücke. Wer wusste schon, ob sie überhaupt in Sicherheit war?
Doch dann wiederum hatte sie auch keine Ahnung, wo sie nach Scarlet suchen sollte. Sie verspürte eine zunehmende Hoffnungslosigkeit.
Plötzlich erschien ein Schafhirte im Tor und schritt langsam auf den Dorfplatz hinaus, gefolgt von seiner Schafherde. Er trug eine lange, weiße Robe mit einer Kapuze, die seinen Kopf vor der Sonne schützte, und ging auf sie zu, einen Stab in der Hand. Zuerst dachte Caitlin, dass er direkt auf sie zu kam. Doch dann erkannte sie: der Brunnen. Er war einfach nur auf etwas zu trinken aus, und sie waren im Weg.
Als er hereinkam, scharten sich die Schafe um ihn herum, erfüllten den Dorfplatz, alle auf den Brunnen zu. Sie mussten gewusst haben, dass es Tränkzeit war. In wenigen Augenblicken fanden sich Caitlin und Caleb inmitten der Herde wieder, und die zarten Tiere schubsten sie zur Seite, damit sie zum Wasser gelangen konnten. Ihr ungeduldiges Blöken erfüllte die Luft, während sie darauf warteten, dass ihr Hirte sie versorgte.
Caitlin und Caleb machten Platz, als der Hirte auf den Brunnen herantrat, die rostige Kurbel drehte und langsam den Eimer heraufholte. Als er sich daranmachte, ihn herauszuheben, ließ er die Kapuze fallen.