Bevor die anderen beiden noch reagieren konnten, wirbelte sie herum und schlug einem von ihnen den Ellbogen ins Gesicht, dann trat sie dem anderen in die Magengrube. Beide gingen bewusstlos zu Boden.
Scarlet stand mit Ruth da und atmete schwer. Sie blickte sich um und sah alle fünf Jungs um sie herum ausgestreckt liegen und sich nicht bewegen. Und dann erkannte sie: sie war der Sieger.
Sie war nicht länger die Scarlet, die sie einst gekannt hatte.
*
Scarlet streunte stundenlang durch die Gassen, Ruth an ihrer Seite, und brachte so viel Abstand wie sie nur konnte zwischen sich und diese Jungs. Sie bog in eine Gasse nach der anderen in der Hitze, verlief sich im Labyrinth der schmalen Seitengassen in der Altstadt von Jerusalem. Die Mittagssonne brannte auf sie herunter, und sie fühlte sich langsam schwindelig davon; sie fühlte sich auch schwindelig vom Mangel an Nahrung und Wasser. Sie konnte Ruth neben sich schwer hecheln hören, während sie sich durch die Menge schlängelten, und sie konnte sehen, dass auch sie litt.
Ein Kind kam an Ruth vorbei und packte sie am Rücken, zerrte spielerisch an ihr, aber zu fest. Ruth drehte sich herum und schnappte nach ihm, knurrte und fletschte die Zähne. Das Kind schrie, fing zu weinen an und rannte davon. Es sah Ruth nicht ähnlich, sich so zu verhalten; normalerweise war sie so duldsam. Doch es schien, als würden die Hitze und der Hunger auch ihr zusetzen. Sie spiegelte auch Scarlets eigene Wut und ihren Frust wieder.
So sehr sie sich bemühte, wusste Scarlet nicht, wie sie ihre restlichen Wutgefühle abschalten sollte. Es war, als wäre etwas in ihr entfesselt worden, und sie konnte es nicht wieder zügeln. Sie spürte ihre Adern pochen, die Wut pulsieren, und als sie an einem Händler nach dem anderen vorbeikam, die alle Arten von Speisen anboten, die sie und Ruth sich nicht leisten konnten, wurde ihr Zorn nur noch größer. Ihr wurde auch langsam klar, dass das, was sie durchmachte, ihre intensiven Hungerschmerzen, keine gewöhnlichen Hungergefühle waren. Es war etwas anderes, erkannte sie. Etwas Tieferes, Primitiveres. Sie wollte nicht einfach Nahrung. Sie wollte Blut. Sie hatte den Drang, zu trinken.
Scarlet wusste nicht, was mit ihr passierte, und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Sie konnte einen Brocken Fleisch riechen und drückte sich durch die Menge, direkt darauf zu, und starrte es an. Ruth drängte sich neben sie.
Scarlet drängelte sich einen Weg bis ganz nach vorne, und dabei schubste ein missbilligender Mann in der Menge sie zurück.
„He Mädchen, pass auf, wo du hintrittst!“, schnappte er.
Ohne überhaupt nachzudenken drehte Scarlet sich herum und schubste den Mann. Er war mehr als doppelt so groß wie sie, doch er flog nach hinten und warf mehrere Obststände um, während er zu Boden fiel.
Er rappelte sich schockiert wieder auf, blickte Scarlet an und versuchte, dahinterzukommen, wie ein so kleines Mädchen ihn so überwältigen konnte. Dann, mit einem ängstlichen Blick, war er weise genug, sich abzuwenden und davonzueilen.
Der Verkäufer blickte grimmig zu Scarlet hinunter, nichts Gutes ahnend.
„Du willst Fleisch?“, schnappte er. „Hast du das Geld, dafür zu bezahlen?“
Aber Ruth konnte sich nicht länger zusammenreißen. Sie sprang vor, grub ihre Zähne in den riesigen Fleischbrocken, riss ein Stück heraus und verschlang es. Bevor noch irgendjemand reagieren konnte, sprang sie noch einmal vor und schnappte nach einem weiteren Bissen.
Diesmal schlug der Händler mit seiner Hand zu, so fest er konnte, auf Ruths Nase zielend.
Doch Scarlet spürte es kommen. Tatsächlich passierte etwas Neues mit ihrem Gefühl für Geschwindigkeit und Zeit. Als die Hand des Händlers langsam herunterfuhr, schoss Scarlets Hand von selbst hoch, beinahe ohne ihr Zutun, und packte das Handgelenk des Händlers, knapp bevor er Ruth traf.
Der Händler blickte auf Scarlet hinunter, mit weit aufgerissenen Augen, schockiert, dass ein so kleines Mädchen so fest zupacken konnte. Scarlet drückte das Handgelenk des Mannes zusammen, fester und fester, bis sein ganzer Arm zu zittern begann. Sie blickte grimmig zu ihm hoch, unfähig, ihre Wut unter Kontrolle zu halten.
„Fass ja nicht meinen Wolf an“, fauchte Scarlet dem Mann entgegen.
„Es…tut mir leid“, sagte der Mann, sein Arm vor Schmerzen zitternd, seine Augen weit vor Schreck.
Endlich lockerte Scarlet ihren Griff und eilte vom Stand davon, Ruth an ihrer Seite. Während sie sich beeilte, so weit wie möglich weg zu kommen, hörte sie ein Pfeifen hinter sich, dann hektische Rufe nach der Wache.
„Weg hier, Ruth!“, sagte Scarlet, und die beiden eilten die Gasse hinunter davon und verloren sich in der Menge. Zumindest hatte Ruth nun gefressen.
Doch Scarlets eigener Hunger war überwältigend, und sie wusste nicht, ob sie ihn noch viel länger in Zaum halten konnte. Sie wusste nicht, was mit ihr passierte, doch als sie eine Straße nach der anderen hinunterliefen, stellte sie fest, dass sie die Hälse der Menschen untersuchte. Sie fokussierte auf ihre Adern, sah ihr Blut pulsieren. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich die Lippen leckte und den Wunsch—den Drang—verspürte, ihre Zähne hineinzubohren. Sie dachte mit Begierde daran, ihr Blut zu trinken, und ertappte sich dabei, sich auszumalen, wie es sich anfühlen würde, wenn das Blut ihre Kehle hinunterrann. Sie konnte es nicht verstehen. War sie überhaupt noch menschlich? Verwandelte sie sich in ein wildes Tier?
Scarlet wollte niemandem wehtun. Im Kopf versuchte sie, sich zurückzuhalten.
Doch im Körper wurde sie von etwas überwältigt. Es stieg aus ihren Zehenspitzen hoch, in ihre Beine, durch ihren Oberkörper bis an ihren Scheitel und in die Fingerspitzen. Es war ein Verlangen. Ein unaufhaltsames, unstillbares Verlangen. Es übernahm ihre Gedanken, sagte ihr, was sie denken sollte, wie sie handeln sollte.
Plötzlich entdeckte Scarlet etwas: in der Ferne, irgendwo hinter ihr, jagte ein Trupp römischer Soldaten hinter ihr her. Ihr neues, hochempfindliches Gehör warnte sie durch den Laut ihrer Sandalen, die über den Steinboden klapperten. Sie wusste Bescheid, obwohl sie noch mehrere Häuserblocks entfernt waren.
Das Geräusch der Sandalen auf dem Stein reizte sie nur noch mehr; die Laute mischten sich in ihrem Kopf mit den Rufen der Händler, den lachenden Kindern, den bellenden Hunden… Es wurde ihr alles zu viel. Ihr Gehörsinn wurde zu intensiv, und sie war zu genervt von all dem Lärm. Auch die Sonne fühlte sich kräftiger an, als würde sie nur auf sie hinunterbrennen. Es war alles zu viel. Sie fühlte sich, als stünde sie unter dem Mikroskop der Welt und würde gleich explodieren.
Plötzlich lehnte sich Scarlet zurück, vor Wut überschwappend, und spürte etwas Neues mit ihren Zähnen geschehen. Sie spürte, wie ihre beiden Schneidezähne sich ausdehnten, spürte lange, scharfe Hauer hervorwachsen und aus ihnen hervorstehen. Sie wusste kaum, was das Gefühl war, doch sie wusste, dass sie sich verwandelte, in etwas, das sie kaum wiedererkennen oder kontrollieren konnte. Plötzlich entdeckte sie einen großen, fetten, betrunkenen Mann durch die Gasse stolpern. Scarlet wusste, dass sie entweder trinken musste, oder selbst sterben. Und etwas in ihr wollte überleben.
Scarlet hörte sich fauchen und war schockiert. Der Laut, so urgewaltig, erschreckte selbst sie. Sie fühlte sich, als wäre sie außerhalb ihres Körpers, als sie hochsprang und durch die Luft direkt auf den Mann zusprang. Sie sah wie in Zeitlupe zu, wie er sich ihr zu drehte, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Sie spürte, wie sich ihre beiden Vorderzähne in sein Fleisch bohrten, in die Adern an seinem Hals. Und einen Augenblick später spürte sie sein heißes Blut in ihre Kehle rinnen, ihre Adern füllen.