Es ließ sich nur schwer sagen, ob Broughtons Bedauern aufrichtig war. Gewiß hatte er mit seinem neuen Kommando viel zu tun, und doch gewann Bolitho den deutlichen Eindruck, daß Broughton ein Mann war, der wenig Zeit an Dinge wandte, die sich nicht hundertprozentig lohnten. Oder an Menschen, denen man nicht mehr helfen konnte, oder die ihm nichts mehr nützten.
Die Berline bog ab, und Bolitho hörte den Kutscher lauthals einen kleinen Leiterwagen beschimpfen, den ein schläfriges Pony zog. Der Wagen war mit Hühnern und allerlei Farmprodukten beladen, und der rotgesichtige Kutscher schimpfte ebenso ordinär zurück.
Bolitho lächelte. Das war vermutlich ein Tagelöhner seines Schwagers; und plötzlich fiel ihm ein, daß er in den vier Tagen, seit er die Auriga nach Falmouth gebracht hatte, weder ihn noch sonst jemanden von der Familie gesehen hatte.
Jetzt
erreichte die Kutsche das bessere Stück Landstraße, die letzten drei Meilen bis zur Küste; und er dachte an die hektischen und anstrengenden Tage seit seiner und des neuen Admirals Ankunft.
Einen Menschen wie Broughton hatte er noch nie erlebt. Gewöhnlich wirkte er ganz ungezwungen; aber seine Stimmungen wechselten schnell, und er wurde anscheinend nie müde.
Bolitho erinnerte sich an das Dinner in der großen Kajüte; wie er da das Gespräch der versammelten Offiziere in Gang gehalten hatte, ohne es jemals an sich zu reißen, und doch wußte jeder einzelne, daß er ständig kontrolliert wurde.
Bolitho war keineswegs sicher, daß er genau ergründet hatte, was für ein Mann hinter dieser Maske aus Charme und Eleganz steckte. Wenn Bolitho Sir Lucius manchmal kalt und unnahbar fand, so war das, wie er genau wußte, nur ein anderes Wort für sein Unbehagen und Mißtrauen gegenüber vielem, was der Admiral verkörperte: die Privilegien, die unbestrittene Macht, diese ganz andere Welt, an der Bolitho keinen Anteil hatte und auch keinen Anteil wollte.
Wenn Broughton von seinem Haus in London sprach, von den Leuten mit großen Namen und großem Einfluß, die dort ständig ein und aus gingen, dann war das keineswegs leere Prahlerei. Es war seine natürliche Art zu leben, etwas, das ihm einfach zustand.
Wenn man ihn in der leicht schwankenden Kajüte des großen Drei-deckers und beim gemütlich kreisenden Wein so reden hörte, konnte man sich des Gedankens nicht erwehren, daß alle wichtigen Entscheidungen in diesem Kriege gegen Frankreich und seine immer zahlreicheren Alliierten nicht in der Admiralität getroffen wurden, sondern bei Gesellschaften an Londoner Kaffeetafeln und in Häusern wie dem Broughtons.
Trotzdem zweifelte Bolitho nicht, daß Sir Lucius eine ganze Menge von Strategie und internationaler Flottenpolitik verstand. Vor drei Monaten hatte Broughton in der Seeschlacht von St. Vincent mitgekämpft; und sein taktischer Verstand, seine Fähigkeit, ein anschauliches Bild vom Verlauf des Kampfes zu geben, hatten Bolitho sehr beeindruckt.
Bolitho konnte sich noch daran erinnern, mit wieviel Neid und Bitterkeit er die Nachricht von Jervis' großem Sieg aufgenommen hatte, während er selbst diese elende Routineblockade vor Südirland fuhr. Hätte der Feind wirklich eine Invasion von Irland versucht und dabei die Euryalus mitsamt ihrem kleinen Geschwader in ein Gefecht verwickelt, so wäre ihm anders zumute gewesen. Beim eifrigen Studium der Berichte über Jervis' Sieg war ihm wieder einmal klargeworden, wieviel Glück dazu gehörte.
Der alte Admiral Jervis war daraufhin zum Earl St. Vincent ernannt worden; und ein anderer Name, Kommodore Nelson, ließ Hoffnung für die Zukunft anklingen. Bolitho erinnerte sich daran, den jungen Nelson anläßlich der unglückseligen Aktion von Toulon kurz gesehen zu haben. Nelson war zwei Jahre jünger als er und doch schon Kommodore; wenn er am Leben blieb, würde er bald noch höher auf der Rangliste steigen.
Einem so begabten Seeoffizier neidete Bolitho seine verdienten Erfolge nicht. Doch dabei war er sich bewußt, daß er selbst ins Hintertreffen geraten war oder so kam es ihm jedenfalls vor.
Drei weitere Linienschiffe, lauter Vierundsiebziger, waren zur Eu-ryalus gestoßen, sowie noch eine Fregatte außer der Auriga, und eine kleine Korvette. Prächtig in der Bucht von Falmouth nebeneinander aufgereiht, boten sie einen eindrucksvollen Anblick; aber er wußte aus bitterer Erfahrung, daß sie, einmal auf hoher See und in der wogenden Leere verstreut, nicht mehr so machtvoll und unbesiegbar aussehen würden. Unwahrscheinlich, daß Broughtons kleines Geschwader anders als am Rande größerer Unternehmungen eingesetzt werden würde.
Der einzige Lichtblick in diesen ersten hektischen Tagen von Broughtons Kommando war, daß er Bolithos Vorschläge und Bitten für die Auriga -Besatzung doch noch akzeptiert hatte. Bootsmannsmaat Taylor saß in Arrest und würde zweifellos degradiert werden. Kapitän Brice und sein Erster Offizier waren noch an Land in der Garnison, und der Dienstbetrieb an Bord der Auriga lief erstaunlich glatt. Außer ihren eigenen neu eingetroffenen Marine-Infanteristen war keine besondere Wache an Bord, und Bolitho hatte Leutnant Keverne als vorläufigen Kommandanten hinübergeschickt, bis ein neuer ernannt wurde. Die Tatsache, daß Keverne offiziell und mit Zustimmung Brough-tons ausgewählt worden war, ließ durchaus vermuten,