Die Schwester warf eine Handvoll Instrumente in das kochende Wasser. »Professor Perrier fluchte nie«, erklärte sie beleidigt. »Und er rettete trotzdem viele Menschen.«
»Professor Perrier war ein Spezialist für Gehirnoperationen. Subtilste Feinmechanik, Eugenie. Wir schneiden in Bäuchen herum. Das ist etwas anderes.« Veber klappte seine Eintragungen zu und stand auf. »Sie haben gut gearbeitet, Ravic. Aber gegen Pfuscher kann man schließlich nichts machen.«
»Doch manchmal kann man.« Ravic trocknete sich die Hände ab und zündete sich eine Zigarette an. Die Schwester öffnete in schweigender Mißbilligung ein Fenster. »Bravo, Eugenie«, lobte Veber. »Immer nach der Vorschrift .«
»Ich habe Pflichten im Leben. Ich möchte nicht gern in die Luft fliegen.«
»Das ist schön, Eugenie. Und beruhigend.«
»Manche haben eben keine. Und wollen keine haben.«
»Das geht auf Sie, Ravic!« Veber lachte. »Besser, wir verschwinden. Eugenie ist morgens sehr aggressiv. Hier ist sowieso nichts mehr zu tun.«
Ravic sah sich um. Er sah die Schwester mit den Pflichten an. Sie erwiderte furchtlos seinen Blick. Die Brille
mit dem Nickelrand gab ihrem kahlen Gesicht etwas Unantastbares. Sie war ein Mensch wie er, aber sie war ihm fremder als ein Baum. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Sie haben recht.«
Auf dem weißen Tisch lag das, was vor ein paar Stunden noch Hoffnung, Atem, Schmerz und zitterndes Leben gewesen war. Jetzt war es nur noch ein sinnloser Kadaver und der menschliche Automat, Schwester Eugenie genannt, der stolz darauf war, nie einen Fehltritt begangen zu haben, deckte es zu und karrte es fort. Sie sind die ewig Überlebenden, dachte Ravic, das Licht liebt sie nicht, diese Holzseelen, deshalb vergißt es sie und läßt sie lange leben.
»Auf Wiedersehen, Eugenie«, sagte Veber. »Schlafen Sie sich aus heute.«
»Auf Wiedersehen, Doktor Veber. Danke, Herr Doktor.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Ravic. »Entschuldigen Sie mein Fluchen.«
»Guten Morgen«, erwiderte Eugenie eisig.
Veber schmunzelte. »Ein Charakter aus Gußeisen.«
Es war grauer Morgen draußen. Die Müllabfuhrwagen ratterten durch die Straßen. Veber schlug seinen Kragen hoch. »Ekelhaftes Wetter! Soll ich Sie mitnehmen, Ravic?«
»Nein, danke. Ich will gehen.«
»Bei dem Wetter? Ich kann Sie vorbeifahren. Es ist kaum ein Umweg.«
Ravic schüttelte den Kopf. »Danke, Veber.«
Veber sah ihn prüfend an. »Sonderbar, daß Sie sich immer noch aufregen, wenn Ihnen jemand unter dem Messer bleibt. Sie sind doch schon fünfzehn Jahre in der Kiste drin und kennen das.«
»Ja, ich kenne das. Ich rege mich auch nicht auf.«
Veber stand breit und behäbig vor Ravic. Sein großes, rundes Gesicht leuchtete wie ein normannischer Apfel. Der schwarze, gestutzte Schnurrbart war naß vom Regen und glitzerte. Am Bordrand stand ein Buick und glitzerte ebenfalls. Darin würde Veber behaglich nach Hause fahren in ein rosafarbenes Puppenhaus in der Vorstadt, mit einer sauberen, blitzenden Frau darin und zwei sauberen, blitzenden Kindern, mit einem sauberen, blitzenden Dasein. Wie konnte man ihm etwas erklären von dieser atemlosen Spannung, wenn das Messer zum ersten Schnitt ansetzte, wenn die schmale, rote Spur Blutes dem leisen Druck folgte, wenn der Körper sich unter den Nadeln und Klammern wie ein vielfacher Vorhang auseinanderfaltete, wenn Organe frei wurden, die nie Licht gesehen hatten, wenn man wie ein Jäger im Dschungel einer Fährte folgte und plötzlich in zerstörten Geweben, in Knollen, in Wucherungen, in Rissen ihm gegenüberstand, dem großen Raubtier Tod und den Kampf, in dem man nichts anderes brauchen konnte als eine dünne Klinge und eine Nadel und eine unendlich sichere Hand wie sollte man ihm erklären, was es bedeutete, wenn dann durch all das blendende Weiß höchster Konzentration auf einmal ein dunkler Schatten in das Blut schlug, ein majestätischer Hohn, der das Messer stumpf zu machen schien, die Nadel brüchig und die Hand schwer und wenn dieses Unsichtbare, Rätselhafte, Pulsierende: Leben, plötzlich fortebbte unter den machtlosen Händen, zerfiel, angezogen von einem geisterhaften, schwarzen Strudel, den man nicht erreichen und nicht bannen konnte, wenn aus einem Gesicht, das eben noch atmete und Ich war und einen Namen trug, eine namenlose, starre Maske wurde diese sinnlose, rebellische Ohnmacht wie konnte man sie erklären und was war daran zu erklären? Ravic zündete sich eine neue Zigarette an. »Einundzwanzig Jahre war das alt«, sagte er.
Veber strich sich mit einem Taschentuch die blanken Tropfen vom Schnurrbart. »Sie haben großartig gearbeitet. Ich könnte das nicht. Daß Sie nicht retten konnten, was ein Pfuscher versaut hat, das ist etwas, was Sie nichts angeht. Wo kämen wir hin, wenn wir anders dächten?«
»Ja«, sagte Ravic. »Wo kämen wir hin?«
Veber steckte sein Taschentuch ein. »Nach allem, was Sie mitgemacht haben, müßten Sie doch verdammt abgehärtet sein.«
Ravic sah ihn mit einer Spur von Ironie an. »Abgehärtet ist man nie. Man kann sich nur an vieles gewöhnen.« »Das meine ich.« »Ja, und an manches nie. Aber das ist schwer herauszufinden. Nehmen wir an, es war der Kaffee. Vielleicht war es wirklich der Kaffee, der mich so wach gemacht hat. Und wir verwechseln das mit Aufregung.«