»Danke«, sagte die Frau. »Danke.«
Ravic ging ins Badezimmer und drehte die Hähne auf. Das Wasser schoß in das Waschbecken. Er löste seine Krawatte und betrachtete sich abwesend im Spiegel. Prüfende Augen, die tief in den Schatten der Höhlen saßen; ein schmales Gesicht, todmüde, wenn die Augen nicht gewesen wären; Lippen, die zu weich waren für die Furchen, die von der Nase zum Mund heruntergerissen waren und über dem rechten Auge, zackig ins Haar verlaufend, die lange Narbe.
Das Telefon klirrte in seine Gedanken. »Verdammt!« Er hatte eine Sekunde alles vergessen gehabt. Es gab solche Augenblicke des Versinkens. Da war ja noch die Frau nebenan.
»Ich komme«, rief er.
»Erschrocken?« Er hob den Hörer ab. »Was? Ja. Gut... ja... natürlich, ja... es wird gehen... ja. Wo? Gut, ich komme sofort. Heißen Kaffee, starken Kaffee... ja...«
Er legte den Hörer sehr behutsam zurück und blieb ein paar Sekunden nachdenklich auf der Sofalehne sitzen. »Ich muß fort«, sagte er dann. »Eilig.«
Die Frau stand sofort auf. Sie schwankte etwas und stützte sich auf den Stuhl.
»Nein, nein...« Ravic war einen Moment gerührt von dieser gehorsamen Bereitwilligkeit. »Sie können hierbleiben. Schlafen Sie. Ich muß weg für ein, zwei Stunden; ich weiß nicht, wie lange. Bleiben Sie nur hier.« Er zog seinen Mantel an. Flüchtig kam ihm ein Gedanke. Er vergaß ihn sofort. Die Frau würde nicht stehlen. Sie war nicht der Typ. Den kannte er zu gut. Es war auch nicht viel da zu stehlen.
Er war schon an der Tür, als die Frau fragte: »Kann ich mitgehen?«
»Nein, unmöglich. Bleiben Sie hier. Nehmen Sie, was Sie noch brauchen. Das Bett auch, wenn Sie wollen. Kognak steht drüben. Schlafen Sie...«
Er wandte sich um. »Lassen Sie das Licht brennen«, sagte die Frau plötzlich und schnell.
Ravic ließ die Klinke los.
»Angst?« fragte er.
Sie nickte.
Er zeigte auf den Schlüssel. »Schließen Sie die Tür hinter mir ab. Ziehen Sie den Schlüssel heraus. Unten ist noch ein zweiter Schlüssel, mit dem ich hereinkommen kann.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Aber bitte,
lassen Sie das Licht brennen.«
»Ach so!« Ravic sah sie prüfend an. »Ich wollte es sowieso nicht auslöschen. Lassen Sie es nur brennen. Ich kenne das. Habe auch mal solche Zeiten gehabt.«
An der Ecke der Rue des Acacias kam ihm ein Taxi entgegen. »Fahren Sie vierzehn Rue Lauriston. Rasch!«
Der Chauffeur drehte um und bog in die Avenue Carnot ein. Als er die Avenue le La Grande Armée kreuzte, schoß von rechts ein kleiner Zweisitzer heran. Die beiden Wagen wären zusammengestoßen, wenn die Straße nicht naß und glatt gewesen wäre. So schleuderte der Zweisitzer beim Bremsen zur Mitte der Straße hinüber, gerade an dem Kühler der Droschke vorbei. Der leichte Wagen drehte sich wie ein Karussell. Es war ein kleiner Renault, in dem ein Mann saß, der eine Brille und einen schwarzen, steifen Hut trug. Bei jeder Drehung sah man einen Augenblick sein weißes entrüstetes Gesicht. Dann fing sich der Wagen und hielt auf den Arc am Ende der Straße zu, wie auf das riesige Tor des Hades ein kleines, grünes Insekt, aus dem eine blasse Faust in den Nachthimmel drohte.
Der Taxichauffeur drehte sich um. »Haben Sie so was schon mal gesehen?«
»Ja«, sagte Ravic.
»Aber mit so einem Hut. Was hat einer mit so einem Hut nachts so schnell zu fahren?«
»Er hatte recht. Er war auf der Hauptstraße. Wozu schimpfen Sie?«
»Natürlich hatte er recht. Darum schimpfe ich ja gerade.« »Was würden Sie denn tun, wenn er unrecht hätte?« »Dann würde ich auch schimpfen.« »Sie scheinen sich das Leben bequem zu machen.« »Ich würde anders schimpfen«, erklärte der Chauffeur und bog in die Avenue Foch ein. »Nicht so erstaunt, verstehen Sie?«
»Nein. Fahren Sie langsamer an den Kreuzungen.«
»Das wollte ich sowieso. Verdammte Schmiere auf der Straße. Aber weshalb fragen Sie mich eigentlich, wenn Sie nachher nichts hören wollen?«
»Weil ich müde bin«, erwiderte Ravic ungeduldig. »Weil es Nacht ist. Meinetwegen auch, weil wir Funken in einem unbekannten Wind sind. Fahren Sie zu.«
»Das ist etwas anderes.« Der Chauffeur tippte mit einer gewissen Hochachtung an seine Mütze. »Das verstehe ich.«
»Hören Sie«, sagte Ravic, dem ein Verdacht kam. »Sind Sie Russe?«
»Nein. Lese aber allerlei, wenn ich auf Kunden warte.« Mit Russen habe ich heute kein Glück, dachte Ravic. Er lehnte den Kopf zurück. Kaffee, dachte er. Sehr heißen, schwarzen Kaffee. Hoffentlich haben sie genug. Meine Hände müssen verdammt ruhig sein.Wenn es nicht anders geht, muß Veber mir eine Spritze machen. Aber es wird gehen. Er drehte die Fenster herunter und atmete langsam und tief die feuchte Luft ein.
2
Ravic ließ die flüssige Seife über seine Hände rinnen und begann sich zu waschen. Er wusch sich mit ärgerlicher Verbissenheit, als wolle er sich die Haut herunterscheuem. »Scheiße!« murmelte er vor sich hin. »Verdammte, verfluchte Scheiße!«
Die Operationsschwester sah ihn angewidert an. Veber blickte auf. »Ruhig, Eugenie! Alle Chirurgen fluchen. Besonders, wenn etwas schiefgegangen ist. Sie sollten daran gewöhnt sein.«