Er folgte ihr. »Kommen Sie mit«, sagte er unfreundlich. »Etwas wird sich schon finden für Sie.«
Sie erreichten den Etoile. Der Platz lag im rieselnden Grau mächtig und unendlich vor ihnen. Der Nebel hatte sich verdichtet, und die Straßen, die rundum abzweigten, waren nicht mehr zu sehen. Nur noch der weite Platz war da mit den verstreuten, trüben Monden der Laternen und dem steinernen Bogen des Arc, der sich riesig im Nebel verlor, als stütze er den schwermütigen Himmel und schütze unter sich die einsame, bleiche Flamme auf dem Grab des Unbekannten Soldaten, das aussah wie das letzte Grab der Menschheit inmitten von Nacht und Verlassenheit.
Sie gingen quer über den ganzen Platz. Ravic ging rasch. Er war zu müde, um zu denken. Er hörte neben sich die tappenden, weichen Schritte der Frau, die ihm schweigend folgte, den Kopf gesenkt, die Hände in die Taschen ihres Mantels vergraben, eine kleine, fremde Flamme Leben und plötzlich, in der späten Einsamkeit des Platzes, obschon er nichts von ihr wußte, erschien sie ihm einen Augenblick gerade deshalb seltsam zugehörig zu ihm. Sie war ihm fremd, so wie er sich selbst überall fremd fühlte, und das schien ihm auf eine sonderbare Weise näher, als durch viele Worte und die abschleifende Gewohnheit der Zeit.
Ravic wohnte in einem kleinen Hotel in einer Seitenstraße der Avenue Wagram, hinter der Place des Ternes. Es war ein ziemlich baufälliger Kasten, an dem nur eines neu war: das Schild über dem Eingang mit der Inschrift : »Hotel International.«
Er klingelte. »Habt ihr noch ein Zimmer frei?« fragte er den Burschen, der ihm öff nete.
Der Junge glotzte ihn verschlafen an. »Der Concierge ist nicht da«, stotterte er schließlich.
»Das sehe ich. Ich habe dich gefragt, ob noch ein Zimmer frei wäre.«
Der Bursche hob verzweifelt seine Schultern. Er sah, daß Ravic eine Frau bei sich hatte, aber er verstand nicht, wozu er noch ein zweites Zimmer wollte. Dazu brachte man Frauen seiner Erfahrung nach nicht mit. »Madame schläft. Sie wirft mich raus, wenn ich sie wecke«, sagte er und kratzte sich mit dem Fuß.
»Schön. Dann müssen wir selbst einmal nachsehen.« Ravic gab dem Jungen ein Trinkgeld, nahm seinen Schlüssel und ging der Frau voran die Treppe hinauf. Bevor er sein Zimmer aufschloß, musterte er die Tür nebenan. Es standen keine Schuhe davor. Er klopfte zweimal. Niemand antwortete. Er versuchte vorsichtig den Drücker.
Die Tür war verschlossen. »Gestern war die Bude leer«, murmelte er. »Wir wollen es einmal von der anderen Seite versuchen. Die Wirtin hat sie wahrscheinlich abgeschlossen, weil sie Angst hatte, daß die Wanzen entkommen.«
Er schloß sein Zimmer
auf. »Setzen Sie sich einen Augenblick.« Er zeigte auf ein rotes Roßhaarsofa. »Ich bin gleich zurück.«
Er öffnete eine Fenstertür, die auf einen schmalen Eisenbalkon führte, kletterte über ein Verbindungsgitter auf den Balkon daneben und versuchte die Tür. Sie war ebenfalls abgeschlossen. Resigniert kehrte er zurück. »Es hilft nichts. Ich kann Ihnen hier kein Zimmer verschaffen.«
Die Frau saß in der Ecke des Sofas. »Kann ich einen Augenblick hier sitzen bleiben?«
Ravic sah sie aufmerksam an. Ihr Gesicht war zerfallen vor Müdigkeit. Sie wirkte, als könne sie kaum noch aufstehen. »Sie können hier bleiben«, sagte er.
»Nur einen Augenblick...«
»Sie können hier schlafen. Das ist das einfachste.«
Die Frau schien ihn nicht zu hören. Sie bewegte langsam, fast automatisch den Kopf. »Sie hätten mich auf der Straße lassen sollen. Jetzt... ich glaube, ich kann jetzt nicht mehr.«
»Das glaube ich auch. Sie können hierbleiben und schlafen. Das ist das beste. Morgen werden wir dann weitersehen.«
Die Frau sah ihn an. »Ich will Sie nicht...«
»Mein Gott«, sagte Ravic. »Sie stören mich wirklich nicht. Es ist nicht das erstemal, daß jemand hier über Nacht bleibt, weil er nicht weiß, wohin. Das ist hier ein Hotel, wo Refugiés wohnen. Da kommt so etwas fast jeden Tag vor. Sie können das Bett nehmen. Ich werde auf dem Sofa schlafen. Ich bin das gewohnt.«
»Nein, nein ich kann hier sitzen bleiben. Wenn ich nur hier sitzen bleiben kann, das ist genug.«
»Gut, wie Sie wollen.«
Ravic zog seinen Mantel aus und hängte ihn auf. Dann nahm er eine Decke und ein Kissen von seinem Bett und schob einen Stuhl neben das Sofa. Er holte einen Frotteemantel aus dem Badezimmer und hängte ihn über den Stuhl. »So«, sagte er, »das kann ich Ihnen geben. Wenn Sie wollen, können Sie auch einen Pyjama haben. Drüben in der Schublade sind welche. Ich werde mich nun nicht mehr um Sie kümmern. Sie können das Badezimmer jetzt haben. Ich habe hier noch zu tun.« Die Frau schüttelte den Kopf.
Ravic blieb vor ihr stehen. »Den Mantel werden wir aber ausziehen«, sagte er. »Er ist naß genug. Und die Mütze geben Sie auch einmal her.«
Sie gab ihm beides. Er legte das Kissen in die Ecke des Sofas. »Das ist für den Kopf. Der Stuhl hier, damit Sie nicht fallen, wenn Sie schlafen.« Er schob ihn gegen das Sofa. »Und nun noch die Schuhe. Klatschnaß natürlich. Gut für Erkältungen.« Er streifte sie ihr von den Füßen, holte aus der Schublade ein paar kurze, wollene Strümpfe und zog sie ihr über. »So, jetzt geht es einigermaßen. In kritischen Zeiten soll man auf etwas Komfort sehen. Altes Soldatengesetz.«