»Ich weiß nicht. Irgend etwas.«
»Zwei Calvados«, sagte Ravic dem Kellner, der eine Weste trug und die Hemdsärmel aufgekrempelt hatte.
»Und ein Paket Chesterfield-Zigaretten.«
»Haben wir nicht«, erklärte der Kellner. »Nur französische.«
»Gut. Dann ein Paket Laurens grün.«
»Grün haben wir auch nicht. Nur blau.«
Ravic betrachtete den Unterarm des Kellners, auf den eine nackte Frau tätowiert war, die über Wolken ging. Der Kellner folgte seinem Blick, ballte die Faust und ließ seine Armmuskeln springen. Die Frau wackelte unzüchtig mit dem Bauch.
»Also blau«, sagte Ravic.
Der Kellner grinste. »Vielleicht haben wir noch eine grün.« Er schlurfte davon.
Ravic sah ihm nach. »Rote Pantoffeln«, sagte er. »Und eine Bauchtänzerin! Er scheint in der türkischen Marine gedient zu haben.«
Die Frau legte ihre Hände auf den Tisch. Sie tat das, als wollte sie sie nie wieder hochnehmen. Die Hände waren gepflegt, aber das besagte nichts. Sie waren auch nicht sehr gepflegt. Ravic sah, daß der Nagel des rechten Mittelfingers abgebrochen und scheinbar abgerissen und nicht weggefeilt worden war. An einigen Stellen war der Lack abgesprungen. Der Kellner brachte die Gläser und eine Schachtel Zigaretten.
»Laurens grün. Fand noch eine.«
»Das dachte ich mir. Waren Sie in der Marine?«
»Nein. Zirkus.«
»Noch besser.« Ravic reichte der Frau ein Glas hinüber. »Hier, trinken Sie das. Es ist das beste um diese Zeit. Oder wollen Sie Kaffee?«
»Nein.«
»Trinken Sie es auf einmal.«
Die Frau nickte und trank das Glas aus. Ravic betrachtete sie.
Sie hatte ein ausgelöschtes Gesicht, fahl, fast ohne Ausdruck. Der Mund war voll, aber blaß, die Konturen schienen verwischt, und nur das Haar war sehr schön, von einem leuchtenden, natürlichen Blond. Sie trug eine Baskenmütze und unter dem Regenmantel ein blaues Schneiderkostüm. Das Kostüm war von einem guten Schneider gemacht, aber der grüne Stein des Ringes auf ihrer Hand war viel zu groß, um nicht falsch zu sein.
»Wollen Sie noch einen?« fragte Ravic.
Sie nickte.
Er winkte dem Kellner. »Noch zwei Calvados. Aber größere Gläser.«
»Größere Gläser? Auch mehr drin?«
»Ja.«
»Also zwei doppelte Calvados.«
»Erraten.«
Ravic beschloß, sein Glas rasch auszutrinken und dann aufzubrechen. Er langweilte sich und war sehr müde. Im allgemeinen war er geduldig mit Zwischenfällen; er hatte vierzig Jahre eines wechselvollen Lebens hinter sich. Aber er kannte Situationen wie diese hier schon zu sehr. Er lebte seit einigen Jahren in Paris und konnte nachts wenig schlafen; da sah man vieles unterwegs.
Der Kellner brachte die Gläser. Ravic nahm den scharf und aromatisch riechenden Apfelschnaps und stellte ihn behutsam vor die Frau. »Trinken Sie das noch. Es hilft nicht viel, aber es wärmt. Und was Sie auch haben nehmen Sie es nicht zu wichtig. Es gibt wenig, das lange wichtig bleibt.«
Die Frau sah ihn an. Sie trank nicht.
»Es ist so«, sagte Ravic. »Besonders nachts. Die Nacht übertreibt.«
Die Frau sah ihn noch immer an. »Sie brauchen mich nicht zu trösten«, sagte sie dann.
»Um so besser.«
Ravic sah nach dem Kellner. Er hatte genug. Er kannte diesen Typ. Wahrscheinlich eine Russin, dachte er. Kaum saßen sie irgendwo, noch naß, da begannen sie schon, einem über den Mund zu fahren.
»Sie sind Russin?«
fragte er.
»Nein.«
Ravic zahlte und stand auf, um sich zu verabschieden. Im gleichen Augenblick stand die Frau ebenfalls auf. Sie tat es schweigend und selbstverständlich. Ravic sah sie unschlüssig an. Gut, dachte er, ich kann es auch draußen tun.
Es hatte angefangen zu regnen. Ravic blieb vor der Tür stehen.
»In welche Richtung gehen Sie?« Er war entschlossen, in die entgegengesetzte Richtung einzubiegen. »Ich weiß nicht. Irgendwohin.« »Wo wohnen Sie denn?«
Die Frau machte eine rasche Bewegung. »Dahin kann ich nicht! Nein! Das kann ich nicht! Nicht dahin!«
Ihre Augen waren plötzlich voll von einer wilden Angst. Gezankt, dachte Ravic. Irgendeinen Krach gehabt und auf die Straße gelaufen. Morgen mittag würde sie sich alles überlegt haben und zurückgehen.
»Kennen Sie nicht irgend jemand, zu dem Sie gehen können? Eine Bekannte? Sie können in der Kneipe telefonieren.«
»Nein. Niemand.«
»Aber Sie müssen doch irgendwohin. Haben Sie kein Geld für ein Zimmer?«
»Doch.«
»Dann gehen Sie in ein Hotel. Es gibt hier überall welche in den Seitenstraßen.« Die Frau antwortete nicht.
»Irgendwohin müssen Sie doch«, sagte Ravic ungeduldig. »Sie können doch nicht im Regen auf der Straße bleiben.«
Die Frau zog ihren Regenmantel um sich. »Sie haben recht«, sagte sie, als fasse sie endlich einen Entschluß. »Sie haben ganz recht. Danke. Kümmern Sie sich nicht mehr um mich. Ich komme schon irgendwohin. Danke.« Sie nahm den Kragen des Mantels mit einer Hand zusammen. »Danke für alles.« Sie sah Ravic von unten herauf mit einem Blick voll Elend an und versuchte ein Lächeln, das ihr mißlang. Dann ging sie fort durch den nebligen Regen, ohne zu zögern, mit lautlosen Schritten.
Ravic stand einen Augenblick still. »Verdammt!« knurrte er überrascht und unschlüssig. Er wußte nicht, wie es kam und was es war, das trostlose Lächeln oder der Blick oder die leere Straße oder die Nacht er wußte nur, daß er die Frau, die dort im Nebel plötzlich aussah wie ein verirrtes Kind, nicht allein lassen würde.