„Sie waren also Kollegen, sagten Sie. Sie sind beide Fitnesstrainer?", fuhr sie fort und versuchte, Staceys Empörung zu überwinden.
„Ja, bei Solstice."
„Das Fitnessstudio direkt gegenüber ihrer Wohnung?“, fragte Jessie und erinnerte sich an den Fitnessclub, den sie bei ihrer Ankunft gesehen hatte.
„Toller Arbeitsweg, nicht wahr?", sagte er.
Sie bestellten Kaffee und setzten sich an einen Tisch in der Nähe. Ryan setzte sich ebenso, sprach aber nicht.
„Bevor wir nun dazu kommen, wie Sie sie gefunden haben, Herr Stacey…"
„Nennen Sie mich Vin", sagte er.
„Okay, Vin", sagte sie. „Davor möchte ich, dass Sie uns von Taylor erzählen. Wie war sie so? Freundlich? Ruhig? Gelassen? Überdreht?"
„Ich würde sie nicht als gelassen bezeichnen. Sie war höflich, aber pflegte einen professionellen Umgang mit Kollegen. Zu ihren Kunden hatte sie ein wärmeres Verhältnis, aber es herrschte dennoch Business-Atmosphäre. Das war ihr Ding. Manche Kunden mögen es, wenn ihr Trainer ein gesprächiger bester Freund ist. Das ist irgendwie mein Ding. Andere wollen jemanden, der keinen Unsinn macht und ihnen hilft, ihre Ziele zu erreichen. Dafür war sie die richtige Person."
„Welche Art von Kunden hatte sie hauptsächlich?“, fragte Ryan und sprach zum ersten Mal.
Vin schaute Jessie zögerlich an, als ob er ihre Zustimmung zur Antwort benötigte. Sie nickte beruhigend, und er fuhr fort.
„Alle möglichen. Aber ich würde sagen, dass mehr als die Hälfte von ihnen verheiratete Frauen in ihren Dreißigern und Vierzigern waren. Viele wohlhabende Ehe- und Hausfrauen, die versuchen, ihren Babyspeck loszuwerden oder sich fit zu halten, damit ihre Männer sie nicht für ihre Sekretärinnen verlassen.
„Das war ihr täglich Brot?“, sagte Ryan.
„Ja. Sie konnte diesen Frauen wirklich Mut machen und ihnen das Gefühl geben, dass sie ihr eigenes Schicksal selbst in der Hand haben. Ich bin ein alleinstehender, schwuler schwarzer Mann, und manchmal hat sie es geschafft, mir einzureden, einen Weißen mittleren Alters heiraten zu können.
„Und standen Sie sich nahe?“, fragte Jessie.
Naja", sagte er. „Wir haben manchmal einen Kaffee zusammen getrunken, oder sind ausgegangen. Ich hab sie ein paar Mal spät abends nach Hause gebracht. Aber ich würde nicht sagen, dass wir Freunde waren – eher gute Arbeitskollegen. Ich glaube, sie mochte mich, weil ich einer der wenigen Männer in diesem Club war, die sie nicht ständig angemacht haben.
„War einer von ihnen besonders aufdringlich?“, fragte Ryan.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich beurteilen kann, was Frauen heutzutage als aufdringlich empfinden", gab er zu. „Alles, was ich sagen kann, ist, dass sie nie von einem von ihnen eingeschüchtert schien. Sie hatte kein Problem damit, einen Mann zurückzuweisen, wenn er eine Grenze überschritt."
„Kennen Sie ihren Beziehungsstatus?“, fragte Jessie. „Sie haben den Beamten gesagt, dass sie Single war."
„Ich sagte, dass ich nicht glaube, dass sie derzeit etwas am Laufen hatte. Ich weiß, dass sie vor ein paar Monaten mit einem Typen zusammen war. Aber nachdem Schluss war, hat sie ihr Liebesleben relativ unter Beschluss gehalten. Und es stand mir nicht zu, sie auszufragen, also kann ich auch nichts Näheres dazu sagen."
„Vin", fragte Jessie und beschloss, die Frage zu beantworten, von der sie wusste, dass sie den Rest des Tages damit zu tun haben würden: „glauben Sie, Taylor könnte sich umgebracht haben?“
Er reagierte sofort mit einer Intensität, die sie so von ihm noch nicht kannte.
„Auf keinen Fall. Taylor war nicht der Typ für sowas. Sie war voller Lebensfreude. Sie war einer dieser Menschen, die konkrete Ziele haben. Sie wollte ihr eigenes Fitnessstudio aufmachen. Sie hätte sich niemals selbst umgebracht. Sie war das, was ich gerne als "Marksauger" bezeichne.
„Was bedeutet das?“, fragte Jessie.
„Sie hat das Mark des Lebens ausgesaugt. Sie hätte ihres niemals freiwillig beendet."
Sie alle saßen einen Moment lang still da, bevor Ryan zu einem weniger philosophischen Thema zurückkehrte.
„Kennen Sie den Namen ihres Exfreundes?", fragte er.
„Nein. Aber ich glaube, eine der Trainerinnen im Club könnte es wissen. Ich erinnere mich, dass sie meinte, sie habe gesehen, wie er Taylor einmal nach Hause gebracht hat. Sie hat ihn wohl wiedererkannt."
Als Vin antwortete, drifteten Jessies Augen zum Eingang des Cafés, wo ein eindeutig obdachloser Mann hereinkam. Er hatte einen langen Bart und Schuhe mit Sohlen, die so lose waren, dass sie jedes Mal, wenn er einen Fuß hob, über den Boden schleiften.
Das war jedoch nicht das, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Etwas Rotes tropfte von der linken Hand des Mannes und seine rechte Hand war unter seiner Jacke versteckt. Er murmelte vor sich hin, als er sich zwischen den anderen Kunden hindurch schlich, wobei er scheinbar absichtlich einige von ihnen anstieß.
„Wie heißt die Trainerin?“, fragte Ryan. Er saß mit dem Rücken zur Tür und hatte den Mann noch nicht bemerkt.
„Chianti."
„Ist das Ihr Ernst?“, fragte Ryan, lachte unwillkürlich und spuckte ein bisschen von seinem Kaffee aus.
„Ich weiß nicht, ob das ihr Geburtsname ist", sagte Vin und lächelte zum ersten Mal. „Aber im Studio nennt sie sich Chianti Rossellini. Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen."
„Warum denke ich, dass das eigentlich nicht Ihre Philosophie ist, Vin?" sagte Jessie archaisch und behielt den Obdachlosen nur halb im Auge.
Vin hob provokativ die Augenbrauen.
„Ich hasse es, euch zu unterbrechen…", sagte Ryan.
„Sie können tun, was Sie wollen, schöner Mann“, unterbrach Vin und machte einen beeindruckenden Augenaufschlag.
Ryan reagierte nicht darauf, sondern sprach weiter.
„Aber wir müssen Sie zu dem Zeitpunkt befragen, als Sie Taylor gefunden haben. Sie äußerten den Beamten gegenüber, das Fenster sei offen gewesen?"
Vins Gesicht verfinsterte sich sofort.
„Nur ein bisschen, ja. Ich habe zuerst geklopft und die Tür überprüft. Sie war verschlossen. Aber als sie nicht reagierte, öffnete ich das Fenster weiter und kletterte hinein. Ich schätze, ich hätte zuerst den Notarzt rufen können. Aber ich dachte, dass ich nicht einfach herumstehen und warten konnte, wenn sie vielleicht verletzt war und Hilfe brauchte.“
„Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen, Vin", sagte Jessie. „Sie haben sich Sorgen um eine Freundin gemacht. Ich bin sicher, die Beweise werden das belegen."
„Danke", sagte Vin leise.
Jessie hätte emotionaler reagiert, wenn sie nicht so auf den Obdachlosen fixiert gewesen wäre, von dessen Arm Blut tropfte. Er wippte nun von der Ferse bis zu den Zehen hin und her, und seine rechte Hand bewegte sich unter seiner Jacke. Es sah aus, als würde er sich selbst in die Hüfte schlagen. Seine Lippen bewegten sich immer noch, aber was er murmelte, war jetzt nicht mehr hörbar. Die Frau mittleren Alters in der Schlange vor ihm blickte immer wieder nervös zurück.
„Hey, Ryan", sagte sie nonchalant, „schau mal hinter dich zu dem bärtigen Kerl in der Schlange.
Ryan blickte hinüber, ebenso wie Vin.
„Der, der nicht aufhören kann, seinen Körper und seine Lippen zu bewegen?“, fragte Ryan.
„Ja", bestätigte Jessie. „Er blutet am linken Arm und ich glaube, er versteckt mit seiner rechten Hand etwas unter seiner Jacke."
„Was glaubst du, was es ist?"
„Ich bin mir nicht sicher. Aber ich habe einen dunklen, nassen Fleck im Hüftbereich der Jacke gesehen. Ich nehme also an, dass es das ist, was seine andere Hand zum Bluten gebracht hat. Außerdem scheint er ziemlich aufgeregt zu sein. Er hat andere Kunden angerempelt – nicht aus Versehen."
„Das könnte etwas sein", sagte Ryan leise. „Oder er könnte wie die Leute sein, an denen wir auf dem Weg hierher auf der Straße vorbeigekommen sind."