„Es tut mir so leid“, murmelte sie.
Sie traute sich nicht, Pierre von den Tricksereien seiner Kinder zu erzählen, auch wenn sie sich sicher war, dass er seine eigenen Vermutungen anstellte. Sie wollte die Kinder davor bewahren, die volle Wucht seiner Wut abzubekommen.
Ein Gong erschallte aus dem Esszimmer und Pierre sah auf seine Armbanduhr.
„Wir werden später darüber sprechen. Bereite jetzt die Kinder fürs Essen vor. Schnell, sonst wird es kalt.“
Schnell war leichter gesagt als getan. Über eine halbe Stunde und weitere Tränen waren notwendig, um Marc und Ella zu baden und in ihre Pyjamas zu stecken. Glücklicherweise zeigte sich Antoinette von ihrer besten Seite und Cassie fragte sich, ob die Konsequenzen ihrer Handlungen sie überforderten. Sie selbst hatte ein Gefühl der Taubheit eingenommen, nachdem der Tag sich zu einer wahren Katastrophe entwickelt hatte. Sie war beim Baden der Kinder klatschnass geworden, hatte aber keine Zeit, selbst zu duschen. Stattdessen zog sie sich ein trockenes Oberteil über und die Quaddeln auf ihren Armen leuchteten wieder auf.
Niedergeschlagen marschierten sie nach unten.
Pierre und Margot warteten in der kleinen Lounge neben dem Esszimmer. Margot nippte an einem Weinglas, während Pierre sich einen weiteren Brandy mit Soda einschenkte.
„Endlich können wir essen“, bemerkte Margot knapp.
Zum Essen gab es eine Fisch-Kasserolle und Pierre bestand darauf, dass die zwei älteren Kinder sich selbst bedienten, während Cassie Ella helfen durfte.
„Sie müssen schon früh die richtige Netiquette lernen“, sagte er und fuhr während dem gesamten Essen fort, sie anzuweisen, wie das richtige Protokoll anzuwenden war.
„Lege deine Serviette auf deinen Schoss, Marc. Nicht zerknüllt auf den Boden. Und deine Ellbogen müssen nach innen gerichtet sein. Ella will nicht von dir in die Seite gestoßen werden, während du isst.“
Der Eintopf war reichhaltig und köstlich und Cassie hatte einen Bärenhunger. Doch Pierres Tiraden reichten, um jedem den Appetit zu verderben. Sie begnügte sich mit kleinen, grazilen Bissen und beobachtete Margot, um zu überprüfen, ob sie selbst auf korrekt französische Art und Weise aß. Die Kinder waren erschöpft und nicht in der Lage, zu verstehen, was ihr Vater ihnen einzutrichtern versuchte. Cassie wünschte sich, Margot würde Pierre erklären, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Pingeligkeit war.
Sie fragte sich, ob Abendessen anders abgelaufen waren, als Diane noch am Leben war. Wie sehr war die Familiendynamik durch Margots Ankunft verändert worden? Ihre eigene Mutter hatte auf stille Weise Konflikte unterbunden, aber mit ihrem Tod waren diese unkontrollierbar ausgebrochen. Vielleicht hatte Diane hier eine ähnliche Rolle gespielt.
„Wein?“ Zu ihrer Überraschung füllte Pierre ihr Glas mit Weißwein, bevor sie ablehnen konnte. Vielleicht war auch das Teil des Protokolls.
Der Wein war wohlriechend und fruchtig und nach nur wenigen Schlucken spürte sie, wie der Alkohol ihre Blutbahnen durchflutete und sie mit Wohlgefühl und gefährlicher Entspannung erfüllte. Schnell stellte sie ihr Glas ab; sie wusste, dass sie sich keine Ausrutscher mehr erlauben konnte.
„Ella, was tust du da?“, fragte Pierre entnervt.
„Ich kratze mein Knie“, erklärte Ella.
„Und warum benutzt du dafür einen Löffel?“
„Meine Fingernägel sind zu kurz, um dranzukommen. Wir sind durch Brennnesseln gelaufen“, sagte Ella stolz. „Antoinette hat Cassie eine Abkürzung gezeigt. Mich haben die Nesseln am Knie erwischt, Cassie in ihrem ganzen Gesicht und an den Armen. Sie hat geweint.“
Margot stellte abrupt ihr Weinglas ab.
„Antoinette! Du hast es wieder getan?“
Cassie blinzelte überrascht, als sie erfuhr, dass dies nicht Antoinettes erste Aktion dieser Art gewesen war.
„Ich …“, begann Antoinette trotzig, doch Margot war unaufhaltsam.
„Du bösartiges, kleines Biest. Du machst doch nur Ärger. Du hältst dich für unglaublich schlau, dabei bist du lediglich ein dummes, fieses, kindisches Mädchen.“
Antoinette biss sich auf die Lippe. Margots Worte hatten ihre kühle Beherrschung aufgebrochen.
„Es ist nicht ihre Schuld“, sagte Cassie plötzlich laut und fragte sich zu spät, ob der Wein möglicherweise eine schlechte Idee gewesen war.
„Es muss sehr schwer für sie sein, mit …“ Sie hielt inne. Sie war kurz davor gewesen, den Tod ihrer Mutter zu erwähnen. Doch Ella glaubte an eine andere Version und sie hatte keine Ahnung, was dahintersteckte. Dafür war nun nicht der richtige Zeitpunkt.
„… so vielen Veränderungen umzugehen“, sagte sie. „Wie auch immer, Antoinette hat mich nicht angewiesen, den Weg zu nehmen. Das habe ich selbst entschieden. Ella und ich waren müde und es sah nach einer guten Abkürzung aus.“
Sie traute sich nicht, Antoinette anzusehen, während sie sprach, für den Fall, dass Margot ein geheimes Einverständnis vermutete. Doch sie schaffte es, Ellas Blick zu erwischen. Sie sah sie verschwörerisch an und hoffte, dass sie verstand, warum Cassie sich auf die Seite ihrer Schwester stellte. Sie wurde mit einem kleinen Nicken belohnt.
Cassie fürchtete, dass diese Verteidigung ihre eigene Situation erschwerte, aber sie hatte etwas sagen müssen. Schließlich wusste sie, wie es war, in einer kaputten Familie aufzuwachsen, wo jederzeit Krieg ausbrechen konnte. Sie verstand die Wichtigkeit eines älteren Vorbilds, das in solchen Situationen Schutz bieten konnte. Wie hätte sie ohne Jacqui die schlimmen Zeiten überstehen können? Antoinette hatte niemanden, der ihr den Rücken stärkte.
„Du stellst dich also auf ihre Seite?“, zischte Margot. „Vertrau mir, das wirst du bereuen – genau wie ich es selbst getan habe. Du kennst sie nicht, wie ich sie kenne.“ Sie zeigte mit einem blutrot lackierten Fingernagel auf Antoinette, die zu schluchzen begonnen hatte. „Sie ist genau wie ihre …“
„Aufhören!“, brüllte Pierre. „Ich dulde keine Streitereien am Esstisch – Margot, halt nun die Klappe, du hast schon genug gesagt.“
Margot sprang so schnell auf, dass ihr Stuhl krachend nach hinten fiel.
„Ich soll die Klappe halten? Dann werde ich gehen. Aber glaube nicht, dass ich nicht versucht habe, dich zu warnen. Du wirst bekommen, was du verdienst, Pierre.“ Sie marschierte zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um und starrte Cassie mit unverschleiertem Hass an.
„Ihr werdet alle bekommen, was ihr verdient.“
Kapitel acht
Cassie hielt den Atem an, während Margots sich mit wütenden Schritten zurückzog. Als sie die anderen betrachtete, erkannte sie, dass sie nicht die einzige war, die durch den boshaften Ausbruch der blonden Frau in schweigende Stockstarre verfallen war. Marcs Augen waren aufgerissen und seine Lippen eng zusammengepresst. Ella nuckelte an ihrem Daumen und Antoinette blickte mit wortloser Wut in die Leere.
Leise fluchend schob Pierre seinen Stuhl zurück.
„Ich kümmere mich darum“, sagte er und marschierte zur Tür. „Bring die Kinder ins Bett.“
Cassie, erleichtert über die Aufgabe, betrachtete die Teller und Gläser auf dem Tisch. Sollte sie den Tisch abräumen oder die Kinder um Hilfe bitten? Die Spannung im Raum war so dick wie Rauch. Sie sehnte sich nach einer normalen, alltäglichen Familienaktivität wie dem Abspülen von Geschirr, um die Gereiztheit aufzulösen.
Antoinette sah die Richtung ihres Blicks.
„Lass es stehen“, keifte sie. „Jemand wird nachher abräumen.“
Mit gezwungener Heiterkeit sagte Cassie: „Nun, dann ist es Zeit fürs Bett.“
„Ich will nicht ins Bett“, protestierte Marc und schaukelte mit seinem Stuhl nach hinten. Als der Stuhl das Gleichgewicht verlor, schrie er mit vorgetäuschter Furcht auf und hielt sich an der Tischdecke fest. Cassie hechtete zu seiner Rettung. Sie war schnell genug, um den Stuhl vor dem Umkippen zu bewahren, aber zu spät, um Marc daran zu hindern, zwei Gläser umzuwerfen und einen Teller krachend zu Boden zu befördern.