Sie seufzte und fuhr fort: „Dann hat vorgestern Nacht das Amt für öffentliche Dienste angerufen und ihn als vermisst gemeldet. Wir haben uns schreckliche Sorgen gemacht, aber einige Stunden später ist er hier aufgekreuzt. Er ist anscheinend den ganzen Weg zu Fuß hierher gelaufen, von wo auch immer er herkam. Aber…“
Sie legte besorgt ihre Hände zusammen und sagte: „Er hat einen schrecklichen Rückschlag erlitten. Er war auf so einem guten Weg, aber nun ist er wieder wie früher – absolut unkommunikativ. Wir konnten es uns nicht erklären, obwohl wir die Gründe dafür selten verstehen können, was unsere autistischen Bewohner angeht. Ihr Progress ist oftmals ruckartig und unvorhersehbar, und wir müssen immer wieder mit Enttäuschungen rechnen. Doch, wenn Sie das jetzt erzählen, vielleicht hat sein Rückschlag auch damit zu tun, dass…“
Dr. Rhind sah nun zutiefst besorgt aus.
Sie sagte: „Ich kann wirklich nicht glauben, dass Wesley jemals irgendjemandem wehtun würde. Er ist wirklich überhaupt nicht gewaltfähig.“
Jenn sagte: „Wir haben auch gar keinen Grund etwas anderes zu glauben, Dr. Rhind.“
Bill fügte an: „Aber wir müssen trotzdem mit ihm sprechen, wenn das nur irgendwie möglich ist.“
Dr. Rhind überlegte einen Moment lang.
Dann sagte sie: „Seine Mutter ist mit ihm in seinem Zimmer. Sie versucht ihm über seinen Rückschlag hinwegzuhelfen. Lassen Sie uns schauen, wie es ihr geht.“
Als Dr. Rhind Riley und ihre drei Begleiter ins Innere der Einrichtung führte, war Riley überrascht von dem, was sich ihr offenbarte. Sie konnte sich gut an das letzte Mal erinnern, dass sie in einer solchen Art von Pflegeeinrichtung gewesen war. Es war damals in Mississippi, als sie, Bill und Jenn einen Mann, der an Demenz litt, befragen mussten.
Das war ein Altersheim gewesen und die Einrichtung hatte in Riley ziemliches Unbehagen hervorgerufen. Es fühlte sich alles irgendwie falsch an, viel mehr nach einem Bestattungsbüro, als nach einem Ort, wo sich tatsächlich um lebendige Menschen gekümmert wurde.
Doch dieser Ort hier war ganz anders.
Zum einen waren die Menschen auf den Fluren alle verschiedenen Alters, von Kindern bis zu Senioren. Und viele der Gesichter hatten wirklich glückliche Ausdrücke. Mehrere Bewohner lächelten und winkten Riley und ihre Kollegen an.
Moment – sind das Bewohner oder Mitarbeiter? fragte Riley sich.
Niemand schien irgendwelche Uniformen zu tragen und Riley konnte sich nicht sicher sein, wer hier lebte und wer hier arbeitete.
Sie kamen an einem gemütlichen Aufenthaltsraum vorbei, wo mehrere Leute rumsaßen und redeten, Brettspiele spielten oder Snacks aßen, und an einem Klassenzimmer, wo eine kleine Schülergruppe aufmerksam ihrem Lehrer zuhörte und etwas mitschrieb.
Während sie an großflächigen Wohnungsähnlichen Zimmern vorbeigingen, drehte sich Riley zu Dr. Rhind und sagte…
„Ich bin beeindruckt. Das hier macht eher den Eindruck einer Schule inklusive Wohnheim, als eines…“
Riley hielt sich noch rechtzeitig davon ab, den Satz zu beenden, doch Dr. Rhind lächelte ein breites Lächeln.
„Haben Sie keine Angst es auszusprechen“, sagte sie zu Riley. „Sie meinen, als eines Irrenhauses.“
Riley nickte und errötete leicht.
Dr. Rhind sagte: „Wir versuchen unsere Bewohner nicht wie…naja, Patienten zu behandeln. Stattdessen behandeln wir sie wie Individuen, die ihre eigenen Probleme, Hoffnungen, Veränderungen, Herausforderungen, Fähigkeiten, Einschränkungen und Bedürfnisse haben. Wir versuchen ein familiäres Gefühl zu schaffen, für Bewohner und Mitarbeiter gleichermaßen. Das führt dazu, dass sich positive und hilfreiche Netzwerke herausbilden, ebenso wie Beziehungen, die manchmal ein ganzes Leben lang anhalten, selbst nachdem einige unserer Bewohner die Einrichtung verlassen und in der Welt da draußen weiterleben. Unsere ‘Alumni’ kommen uns oft besuchen um anderen zu helfen, ihnen wertvolle Fertigkeiten beizubringen und andere Sachen, die sie inzwischen gelernt haben. Vor allem versuchen wir Selbstständigkeit zu fördern.“
Mit einem Seufzen fügte sie hinzu: „Wir hatten solche Hoffnungen für Wesley. Er schien sich so gut zu entwickeln.“
Da blieb Dr. Rhind stehen und klopfte an eine der Türen.
Riley hörte eine weibliche Stimme aus dem Inneren sagen: „Herein.“
Riley und ihre drei Begleiter folgten Dr. Rhind ins Innere eines großen, angenehmen Ein-Zimmer Apartments. Eine Frau mittleren Alters und ein junger Mann saßen an einem Tisch in der Näher einer vollausgestatteten Küchenzeile.
Die Frau schaute den jungen Mann mit einem traurigen, fürsorglichen Blick an. Die Aufmerksamkeit des jungen Mannes war einzig und allein auf ein Objekt gerichtet, dass sich auf einem kleinen Stand auf dem Tisch drehte.
Ein Spielzeuggyroskop, erkannte Riley.
Als kleines Mädchen hatte sie auch so eins besessen.
Wesley Mannis’ Konzentration auf das Gyroskop schien weit bloße Faszination zu überschreiten. Er war absolut vereinnahmt, beinahe hypnotisiert davon. Er blinkte nicht einmal als das sich drehende Objekt sich verlangsamte, dann zur Seite lehnte und endlich von seinem Stand auf die Tischplatte herabfiel.
Ohne ein Wort fädelte Wesley ein Stück Garn durch ein kleines Loch in der Achse des Gyroskops und drehte die Achse ganz akkurat, bis das Garn fein säuberlich darauf aufgespult war. Danach zog er an dem Garn und brachte das Rädchen erneut zum Kreiseln.
Er setzte das Gyroskop zurück auf den Stand und schaute zu wie es sich drehte und summte.