Als ihr das klar wurde, hatte sie das Gefühl, sich am Ende der Welt zu befinden – ein Gefühl, das nur noch verstärkt wurde, als sie den Flughafen betrat. Sicher, es war ein hübsches Gebäude, aber im Vergleich zum chaotischen Gewimmel am Dulles-Flughafen in DC war der Menschenstrom hier dünn und fast schon ordentlich.
Aufgrund des mangelnden Menschenaufgebots in der Anlage entdeckte Mackenzie problemlos die Frau in der blauen Polizeiuniform, die am Gate auf sie wartete. Sie war um die vierzig und ihr blondes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, umrahmte ein hübsches, kantiges Gesicht. Sie schien sich jede Person genau anzusehen, die mit Mackenzie hinter der Absperrung erschien. Als sich ihre Blicke trafen, nickte die Polizistin höflich und traf sich dann in der Flughafenhalle mit Mackenzie.
„Agent White?“, fragte die Frau. Die silberne Marke über ihrer linken Brust identifizierte sie als Timbrook.
„Das bin ich.“
„Gut. Mein Name ist Shelly Timbrook. Ich dachte, es sei am besten, mich hier mit Ihnen zu treffen und Ihnen den Ärger zu ersparen, einen Mietwagen nehmen zu müssen. Außerdem – je eher ich Sie zum Tatort bringen kann, desto besser. Das zweite Opfer, der zweiundzwanzigjährige Bryce Evans, wurde am Fuß des Logan’s View gefunden. Da sich die Fundstelle innerhalb des Parks befindet, steht der Fall auch im Blickpunkt der Öffentlichkeit.“
„Wie weit ist es von hier bis zum Parkeingang?“, fragte Mackenzie.
„Nicht mal zehn Minuten. Dann nochmal fünf bis zum Logan’s View.“
„Dann los“, meinte Mackenzie.
Timbrook übernahm die Führung und bewegte sich auf den Ausgang des Flughafens zu. Mackenzie folgte und schrieb währenddessen Ellington eine Nachricht, um ihn wissen zu lassen, dass sie angekommen war und bereits mit der örtlichen Polizei in Verbindung stand. Als sie ihm von dem Anruf mit McGrath erzählt hatte, wusste er bereits Bescheid. McGrath hatte ihn scheinbar sofort nach seinem Telefonat mit Mackenzie kontaktiert. Ellington hatte aufgeregt geklungen und ebenfalls behauptet, dass sie eine Gelegenheit wie diese brauchte, um herauszufinden, wie ihre nächsten Schritte aussehen sollten.
Das Schlimme daran war, dass er recht hatte. Sie wünschte, er könnte hier bei ihr sein. Es war nicht nur die längste Zeit der Trennung von Kevin seit seiner Geburt – auch Ellington und sie waren seit ihrem Mutterschutz einen Monat vor Kevins Geburt nie länger als zehn Stunden voneinander getrennt gewesen.
Sie vermisste ihn. Und obwohl sie sich deshalb jung und unreif fühlte, war es die Wahrheit. Aber sie schaffte es, diese Gefühle fürs erste beiseite zu schieben. Sie würde ihn und Kevin per Videochat anrufen, sobald sie im Hotel war. Aber auf den furchtbar lückenhaften Polizeiberichten basierend, nahm sie an, dass ihr ein langer Nachmittag bevorstand.
* * *
„Um es sofort aus dem Weg zu räumen, muss ich Ihnen etwas gestehen“, sagte Timbrook. „Ich bin eine Art Fan von Ihnen. Ich weiß, dass das albern klingt, aber als Sie vor einigen Jahren den Vogelscheuchen-Mord aufgeklärt haben, war ich mehr als beeindruckt. Darf ich fragen … sind Sie dadurch beim FBI gelandet?“
„Mehr oder weniger.“
„Es war sehr erfrischend, Ihnen dabei zuzusehen, wie Sie – als junge Frau – die Leitung über eine Truppe übernommen haben, die hauptsächlich aus Männern bestand. Das war ein gutes Gefühl.“
Mackenzie wusste nicht, wie sie auf diese Art von Kompliment reagieren sollte, also ignorierte sie es ganz und ging sofort zum Geschäftlichen über.
„Ich habe die Berichte beider Opfer gelesen und leider nur wenig erfahren“, sagte sie. „Ich weiß, dass das zweite Opfer erst gestern gefunden wurde, aber warum die Verzögerung bezüglich der Informationen zum ersten Opfer?“
„Weil man für die ersten zwölf Stunden von einem tragischen Unfall ausgegangen ist. Oder sogar Selbstmord. Auch ich habe so etwas vermutet. Die Leiche wurde unterhalb der Exum Ridge gefunden und war dort vermutlich bereits mehrere Tage gelegen.“
„Wie weit sind der Logan’s View und die Exum Ridge voneinander entfernt?“
„Etwa vier Kilometer. Es gibt einige Hauptwanderwege, die zwischen den beiden Aussichtspunkten verlaufen.“
„Und wir gehen davon aus, dass die beiden Morde etwa vier Tage auseinander liegen, nicht wahr?“
„Soweit wir es sagen können, ja. Die Annahme basiert bisher lediglich auf den Untersuchungen der Gerichtsmediziner. Wir dürfen nicht vergessen, dass beide Leichen von Wanderern entdeckt worden sind. Wir können keine Aussagen darüber treffen, wie lange die Leichen sich bereits an ihrer Position befunden hatten. Das Gespräch mit den Familien und die Erstellung von Zeitplänen kann uns nur eine ungefähre Vorstellung geben.“
„Können Sie mir sagen, was wir über das erste Opfer wissen?“
„Sicher. Es handelt sich um die dreiundzwanzigjährige Mandy Yorke. Ihre Leiche wurde am Fuß der Exum Ridge gefunden. Sie hatte sich relativ weit von den üblichen Kletterrouten entfernt aufgehalten, was darauf hinweist, dass sie eine Art Profi gewesen sein muss. Das kommt häufiger vor. Gute Kletterer halten sich nur selten mit den traditionellen Routen auf. Sie verlassen die ausgetretenen Touristenpfade, um etwas Anspruchsvolleres zu finden. Deshalb wurde zuerst angenommen, dass es sich bei ihrem Tod um einen Unfall gehandelt haben könnte. Aber bei der Suche nach Beweisen am Tatort mussten wir feststellen, dass ihr Kletterseil abgetrennt worden war.“
„Absichtlich?“
„So sieht es aus. Es ist ein glatter Schnitt. Wir haben ihn mit einigen alten, gebrochenen Seilen im Park verglichen. Der saubere Schnitt von Yorkes Seil unterschied sich immens von den ausgefransten Enden der anderen.“
„Weiß man, wo das Seil abgeschnitten worden ist?“
„Oben. Es sieht fast so aus, als hätte der Mörder darauf gewartet, dass Yorke die Spitze erreicht.“
„Wurde beim zweiten Opfer auch sabotiertes Equipment gefunden?“, fragte Mackenzie.
„Nein. Die Gerichtsmediziner meinten, wir hätten Glück gehabt – mit wir sind wir Ermittler gemeint – weil das Opfer auf seinen Rücken gefallen ist. Dadurch konnten wir problemlos erkennen, dass das stumpfe Trauma am Kopf nicht vom Fall verursacht wurde. Vielmehr wirkt es wie das Resultat eines Angriffs, womöglich mithilfe eines Steins oder Hammers.“
„Ist die ganze Truppe mit dieser Theorie einverstanden?“
„Kaum“, meinte Timbrook. „Der Gerichtsmediziner muss noch bestätigen, dass die Stirnverletzung des zweiten Opfers nicht vom Fall verursacht wurde. Aber der bloße Anblick spricht bereits Bände. Wie Sie wissen, reicht das allerdings nicht aus. Und während fast alle zustimmen, dass das sauber abgetrennte Seil Yorkes verdächtig ist, sind auch hier nicht alle bereit, Fremdeinwirkung in Betracht zu ziehen. Kletterunfälle sind nicht selten, jedes Jahr sterben drei bis vier Kletterer und Wanderer, etwa fünfzig werden verletzt.“
„Aber zwei Todesfalle in vier oder fünf Tagen?“, fragte Mackenzie.
„Ich weiß. Ich vermute, dass jeder auf dem Revier mittlerweile skeptisch ist, aber niemand will es aussprechen, bevor wir absolute Sicherheit haben.“
Mackenzie nickte langsam. Sie verstand das Zögern, zwei Todesfälle Morde zu nennen, wenn es keine handfesten Beweise gab. Aber noch mehr verstand sie Timbrooks Gedankengänge. Sie hatte schon oft in ihren Schuhen gesteckt – eine ruhige Polizeibeamtin, umringt von Männern, die sie zwar respektieren, aber nur langsam schalten, wenn es darum geht, ihre Ideen als Tatsachen wahrzunehmen. Sie wusste natürlich, dass auch in der Gesetzesvollstreckung Gleichberechtigung immer mehr zur Norm wurde, aber ihr war auch bewusst, dass manche Traditionen nur schwer abzulegen waren.