Hübsche Männer neigen zur Oberflächlichkeit, ging es ihm durch den Sinn, gewiss ist er zu hübsch und zu gewandt, um tief und aufrichtig zu sein.
Nach geraumer Zeit aber drängte es Gleichen von neuem zu sprechen. «Das Recht ist das feste Fundament, in dem ein Volk steht und fäll», begann er von neuem. «Halten Sie es als Jurist nicht für bedenklich, Einrichtungen zu schaffen, die die Rechtssicherheit des Volkes verwirren können».
Es dauerte längere Zeit, bis Fabian antwortete. «Vor allem wäre es nötig, dem Volk klarzumachen, dass es sich um Übergangserscheinungen handel», erwiderte er. «Übergangserscheinungen». Gleichen lachte. «Ja, wenn man wüsste, dass es sich nur um vorübergehende Einrichtungen handelt? Wie aber sollte man das wissen».
Darauf gab Fabian nur eine unverständliche, kurze Antwort.
Seine unverkennbare Abneigung, ernsthaft auf ein Gespräch eingehen zu wollen, mahnte Gleichen zur Vorsicht.
Er zog die Stirn seines zergrübelten Gesichts kraus und begann erneut zu schweigen. Wieder betrachtete er Fabian, und etwas wie leichtes Misstrauen erschien in seinen düster glimmenden Augen. Schweigend ging er weiter, aber er fühlte sich unbehaglich in Fabians Nähe.
Nach einigen Minuten erblickte er den Seitenweg, den er einschlagen musste.
«Ich muss hier abbiege», sagte er, indem er den Hut zog. «Ich will zu einem Kollegen in dem Dorf da drüben. Er ist krank, und ich besuche ihn an jedem freien Tag». Er deutete auf eine Gruppe roter Dächer, die über den gelben Stoppelfeldern zu sehen war. Als er Fabian die Hand reichte, blickte er ihn mit düsteren Augen an, die von einem fragenden, forschenden Ausdruck erfüllt waren.
Etwas verwirrt durch den forschenden Blick Gleichens, verfolgte Fabian seinen Weg zur Stadt. Über den fernen bunten Dächern kam ihm ein großer blauer Fleck am Himmel rasch entgegen. Er war, offen gestanden, froh, dass sein Begleiter ihn verließ, damit er seinen Gedanken ungestört nachhängen konnte. Alles, was er heute erlebt hatte, seit dem Gespräch mit den beiden Damen in Clotildes Zimmer, ging ihm durch den Kopf und erfüllte seinen Sinn mit Unruhe.
War es nicht sonderbar, dachte er, diese vielgeschmähte Partei verfolgt mich heute auf Schritt und Tritt. Sie scheint wahrhaftig allgegenwärtig zu sein und wird auch nicht so rasch verschwinden, wie Wolfgang und viele es glauben, Jahre wird sie dauern, viele, viele Jahre, vielleicht Generationen!
Ja, man muss sich klarwerden, sagte er zu sich. Man kann ja jetzt auch schon deutlicher die Entwicklung überblicken, nicht wahr? Jedenfalls wird es höchste Zeit, einen klaren Entschluss zu fassen. Auf keinen Fall wird man mir vorwerfen können, dass ich leichtfertig in die Sache hineingegangen wäre, wie es so viele getan haben. Nachdenklich blieb er vor einer Regenlache stehen und blickte nach oben. Zwischen den Pappeln sah er den großen blauen Fleck, der rasch über die Stadt heraufgestiegen war und ihn nahezu erreicht hatte. Wie so viele, wiederholte er. Ich habe lange beobachtet und zugesehen, viele werden sagen, zu lange, aber lass sie doch reden, was kümmert es dich? Eine Menge von Vorurteilen hat mich anfangs abgeschreckt. Vieles erschien mir unecht und billig, vieles ging mir zu rasch. Ich hielt das Tempo für überstürzt. Die Rassenfrage hielt ich, offen gesagt, für eine Schrulle, eine Laune, für völlig unnötig. Heute aber begreife ich, dass flüchtige Vorurteile mich scheu gemacht haben.
Ja, richtig scheu gemacht, wiederholte er seine Gedanken. Das Rassenbewusstsein sollte gestärkt und gehoben werden. Die Anhänger der Partei wurden ganz offensichtlich bevorzugt, zugegeben, ganz wie in anderen Ländern auch, zum Beispiel in Amerika, und das war wiederum richtig und sinnvoll. Die Partei aber wollte diese Bevorzugten vorher erst zu bestimmten Parteitugenden erziehen und diese Tugenden im Volk weiterverarbeiten. Natürlich konnte man das nicht von heute auf morgen erreichen, aber allmählich wird auf diese Weise ein ganz neues Volk entstehen. Das verwahrloste, unsicher gewordene, zum Teil auch in seinen sittlichen Grundsätzen schon schwankende Volk sollte auf eine völlig neue ethische Basis gestellt werden. All diese Dinge verwirrten mich, wie sie viele verwirrten. Dabei habe ich aber nie die Großtat der Partei vergessen: die Überwindung der Arbeitslosigkeit! Die Partei hat damit das deutsche Volk vor dem gänzlichen Zusammenbruch bewahrt.
Ja natürlich, nahm er seine Gedanken wieder auf, es kamen wohl manche Dinge vor, die diese Großtat wieder verdunkelten, zugegeben. Vieles war erlogen, vieles wahr, man muss die Menschen kennen. Aber schließlich war es ja eine Revolution, nicht wahr, und für eine bis in die Tiefe des Volkes gehende Revolution bedeuteten solche Dinge nichts, nichts, rein nichts. In der Französischen Revolution zum Beispiel schlug man den Leuten, die die neuen Ideen nicht begreifen wollten, ganz einfach die Köpfe ab. Was ist dir nun lieber, dass man dir den Kopf abschlägt oder dich in einem Lager etwas, vielleicht etwas unsanft anpackt? Was ist dir lieber? Die Franzosen haben den Adligen den Kopf abgeschlagen, weil sie ganz einfach nicht begreifen konnten, dass auch die Bürger Rechte hatten. Sie begriffen es einfach nicht.
Fabian hielt die Hand in die Luft. Der Regen hatte aufgehört. Das reinste Aprilwetter, dachte er.
Aber wir wollen weiter denken. Die Partei verfügt auf jeden Fall über viele beachtenswerte Ideen, ein Volk zu erziehen, ohne jede Frage. Natürlich können viele diese Ideen nicht begreifen, auch Wolfgang nicht, der sonst doch klug ist. Auch ich konnte sie ja bis heute in ihrer ganzen Bedeutung nicht erfassen. Es ist eine Revolution der Ideen, mein lieber Wolfgang, werde ich zu ihm sagen, eine Revolution, verstehst du? Man schlägt dir nicht den Kopf ab, nein, sondern man ersucht dich, mehr oder weniger höflich, einige Zeit den Mund zu halten, sagen wir, ein, zwei Jahre, bis das Volk eine gewisse Reife erreicht hat. Dann wird man dir gewiss wieder eine Privatmeinung erlauben, aber dann wirst du vielleicht gar keinen Wert mehr darauf legen, wie?
Fabian lachte vor sich hin.
Eins aber erscheint heute schon völlig klar, die neuen Ideen ergreifen heute das Volk, sie sind überall, sie sind allgegenwärtig und allzeit gegenwärtig. Die neuen Leute haben heute schon dazu ein System der Überwachung und Kontrolle eingerichtet, wozu sie vollkommen berechtigt sind, nicht wahr? Sie wären ja kurzsichtig, es nicht zu tun, oder?
Die Baronin kann nicht verstehen, dass ich bis heute meine Kräfte nicht in den Dienst der neuen Ideen stellte wie alle Welt. Sie war sehr unzufrieden mit mir und sprach es ganz offen aus. Schließlich hat man ja auch als erwachsener Mann und Vater zweier Söhne die Pflicht, daran zu denken, was weiter wird? Die Partei wird von Tag zu Tag mächtiger, das sieht ein Blinder. Und sie wird lange bleiben, solange ich lebe, wird sie wahrscheinlich bleiben und vielleicht noch viel länger. Ja, natürlich wären Ney und Murat ewig kleine Korporale geblieben, wenn sie gewartet hätten, bis Napoleon Cäsar wurde. Das hat die Baronin übrigens sehr hübsch gesagt, nicht wahr? Man darf selbstverständlich nicht erst warten, bis alle einflussreichen Positionen in anderen Händen sind! Clotilde will ja nichts für sich, ganz und gar nichts, aber sie ist der Ansicht, dass ich an die Jungen denken müsste. Das ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt, und auch daran muss man denken, wenn man einen Entschluss fassen will. Unterdessen hatte er die ersten Häuser der Stadt erreicht. Erst als er Menschen und Trambahnen erblickte, erwachte er aus seinen Gedanken, die ihn willenlos mit sich fortgetragen hatten. Er wurde gleichsam nüchtern und machte sich Vorwürfe, dass er sich so lange bei seinem Bruder aufgehalten hatte. Sein Tagesprogramm war dadurch völlig in Unordnung geraten. Für viele seiner Besuche war es zu spät geworden. Ohne sich lange zu besinnen, beschloss er, Frau Lerche-Schellhammer aufzusuchen, eine langjährige Klientin, die ihm geschrieben hatte, bei ihr in dringender Angelegenheit vorzusprechen, sobald er aus dem Urlaub zurückkäme. Zudem wusste er, dass er bei Frau Beate Lerche-Schellhammer als Freund des Hauses jederzeit willkommen war. Er hatte zu diesem Besuch allerdings noch einen Beweggrund, über den er sich aber kaum vor sich selbst Rechenschaft ablegte.