VIII
Frau Beate Lerche-Schellhammer wohnte mit ihrer Tochter Christa in dem alten Sehellhammerschen Haus auf einer Anhöhe neben dem Hofgarten. Jedermann kannte es. Es war ein altmodisch aussehendes, wenig anziehendes breites Gebäude, das sich der alte Schellhammer, der als einfacher Autoschlosser begann, vor fünfzig Jahren erbauen ließ. Sobald sich ein Schritt dem Hause näherte, kam Nero, ein Bernhardiner[33], aus seiner Hütte hinter dem Hause hervor und strich mit bernsteingelben Augen lautlos am Eisengitter entlang, so dass niemand Lust hatte, lange stehenzubleiben. Wehe, wenn jemand das Gitter berührte! Entfernte sich der Schritt, so verschwand Nero wieder in seine Hütte.
Fabian kam den kleinen Seitenweg aus dem Hofgarten gegangen, und sobald er den schmalen Fahrweg überschritt, stand Nero schon am Tor. Der Hund kannte ihn von vielen Besuchen und schlug freudig an. Sofort erschien eines der hübschen Dienstmädchen, die im Hause beschäftigt waren, um ihm zu öffnen.
Aus dem Hause drang Klavierspiel, jemand übte fleißig eine schwierige Köhler-Etüde[34], brach aber sofort ab, als der Hund bellte. Es war die gleiche Köhler-Etüde, die Fabian oft gehört hatte, als er sich mit Clotilde verlobte, die später in der Ehe kaum noch das Klavier anrührte. Man vernahm rasche Schritte im Haus, und im gleichen Augenblick erblickte er Christa Lerche-Schellhammer in der geöffneten Haustür. Als sie ihn sah, schritt sie rasch die wenigen Stufen herab und kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. Ihre sanften, warmen Augen strahlten, und sie lächelte.
«Wie gut, dass Sie zurück sind». begrüßte sie ihn. «Sie ahnen nicht, wie langweilig es war, die Menschen hier sind zu armselig».
Schon wochenlang hatte Fabian sich auf dieses Wiedersehen gefreut und ihm voller Spannung entgegengesehen. Seitdem seine Ehe mit Clotilde in die Brüche gegangen war[35], übte er eine große Zurückhaltung gegen Frauen. Er empfand eine starke Zuneigung zu Christa und hatte im Grund seines Herzens gewünscht, dass sie ihn nach der langen Trennung enttäuschen würde. Fast ärgerlich über sich selbst, musste er sich gestehen, dass er sie in gleichem Maße anziehend fand wie früher.
«Ich bin glücklich, Sie wiederzusehe», sagte er aufrichtig. Von allen seinen Bekannten hatte er in Wahrheit am häufigsten an sie gedacht.
Christa Lerche-Schellhammer war eine junge Dame mit braunen Augen, so weich wie Samt. Ihre regelmäßigen, schlichten, auffallend klaren Gesichtszüge fanden viele für ungewöhnlich schön, während andere diese Schönheit nicht entdecken konnten. Niemand aber leugnete den Reiz ihres Lächelns, das ihr ganzes Wesen erhellte, wie ein Licht, das von irgendwoher aus ihrem Innern strahlte.
Auch heute war Fabian von ihrem Lächeln wieder bezaubert.
Wie reizend ist doch ihr Lächeln? dachte er, während er plaudernd mit ihr ins Haus trat. Ist es nicht merkwürdig, dass ich es selbst während meiner langen Abwesenheit nicht ganz vergessen konnte? Und wie wundervoll ist doch der Klang ihrer Stimme! Nein, du kannst sagen, was du willst, sie ist wirklich ein wahrhaft reizendes Wesen. «Sie kommen gerade recht zum Tee, Mama erwartete Sie seit Tage», sagte Christa und öffnete die Tür zum Empfangszimmer.
Auch diese einfachen Worte gefielen ihm. Es ist schließlich ganz gleichgültig, was sie sagt, dachte er. Es liegt am Zauber ihrer weichen Stimme.
«Ich bitte Sie herzlich, beruhigend auf Mama einzuwirke», begann Christa und deutete auf einen Sessel. «Sie war in den letzten Tagen unsagbar aufgeregt».
«Aufgeregt, sagt sie». rief in diesem Augenblick mit lauter Stimme Frau Beate Lerche-Schellhammer, die breit und mit vor Zorn geröteten Wangen in der geöffneten Tür erschien. «Geplatzt bin ich vor Wut! Räuber und Spitzbuben, das sind meine verehrten Herren Brüder, Banditen». Sie lachte wütend auf, indem sie auf Fabian zuging. «Endlich zurück von der Reise, lieber Freund». fügte sie ruhiger hinzu und reichte ihm die Hand.
Fabian begrüßte sie herzlich wie eine alte Bekannte. «Behalten Sie ruhig Platz, mein verehrter Freun», fuhr sie fort. «Ich habe wieder, wie so oft, Ihren Rat dringend nötig. Sofort werde ich Ihnen den Brief geben, den meine edlen Brüder an mich geschrieben haben. Wo habe ich denn den Brief dieser Schurken hingelegt, Christa».
Frau Beate Lerche-Schellhammer war eine schwere, massige Frau mit kräftigen Schultern und einem geröteten, in die Breite gegangenen Gesicht. Sie hatte die gleichen braunen Augen wie Christa, nur dass sie um eine Schattierung dunkler waren und nicht dieselbe samtartige Weichheit zeigten. Sie waren härter. Wenn man die beiden auf der Straße sah, so konnte man nicht eine Sekunde im Zweifel darüber sein, dass sie Mutter und Tochter waren.
Endlich hatte Frau Beate den Brief auf einer Kommode in der Ecke gefunden und reichte ihn Fabian:«Lesen Sie den Brief in aller Ruh», sagte sie, «und erklären Sie mir dann, worauf meine edlen Brüder hinauswollen. Es scheint, als hätten sie endlich die Maske abgeworfen! Wenn ich sie recht verstehe, soll ich aus den Werken Schellhammer ausscheiden, kurzerhand ausbooten wollen sie mich, da ich ihnen im Wege bin! Sie werden ja sehen». Sie entnahm einer Schachtel eine schwarze Zigarre, ließ sichin einen bequemen Sessel nieder und begann in erregten Zügen zu paffen. Dabei ließ sie Fabian nicht eine Sekunde aus den Augen.
Sobald er nur die Brauen hochzog, richtete sie sich im Sessel auf und rief: «Nun, habe ich recht». «Er muss ja den Brief erst lese», warf Christa ein.
Fabian nickte nachdenklich. «Es scheint, dass Sie recht behalten, gnädige Fra», erwiderte er.
Frau Beate stieß eine mächtige Rauchwolke zur Decke empor und lachte wütend. «Natürlich kann ich meine edlen Brüder recht gut verstehe», begann sie von neuem. «Nützen kann ich ihnen nichts mehr, und schaden kann ich ihnen noch weniger. Was für ein Interesse sollten sie also an mir haben? Ich bin nicht in der Lage, ihnen den Ehrendoktor zu verleihen oder glänzende Orden, wie ihre Weiber sie lieben, oder haushohe Titel, vor denen ihre Dienstboten herumkriechen. Ich verstehe ja, dass ihnen ihre Weiber näherstehen als ihre Schwester».
Das Mädchen brachte den Tee, und sie brach ab. Christa half, den Tisch zurechtzumachen.
Fabian las den Brief zu Ende und versuchte sich nochmals, die Rechtslage vorzustellen.
Die Schellhammerschen Werke repräsentieren heute einen bedeutenden Wert, den man auf mehrere Millionen schätzte. Im Weltkrieg hatte der alte Schellhammer die erste große Halle gebaut, heute waren es zehn riesenhafte Anlagen. Erst heute hatte er sie im Vorbeigehen bewundert. In erster Linie fabrizierten die Werke schwere Lastwagen, Autobusse und Schlepper, erst in den letzten Jahren produzierten sie auch landwirtschaftliche Maschinen. Der alte Schellhammer hatte die Werke seinen Kindern hinterlassen, zwei Söhnen und einer Tochter. Von den Söhnen leitete der ältere, Otto, den kaufmännischen Teil, während der jüngere, Hugo, der als Ingenieur einen ziemlichen Ruf genoss, die technische Leitung übernahm. Die einzige Tochter war Frau Beate Lerche-Schellhammer.
Fabian stand Frau Beate seit Jahren als Anwalt zur Seite. Sie hatte sich wiederholt über die Bezüge beklagt, die ihr die Brüder zubilligten. Mehrmals stand man vor einem Prozess. Schließlich hatte aber immer die Rücksichtnahme der Brüder, die Fabian als großzügige Menschen kannte, die Oberhand gewonnen[36]. Auch in dem heutigen Schreiben deutete eine Wendung auf die Bereitwilligkeit der Brüder hin, einen Weg der Verständigung zu suchen, die für beide Teile tragbar wäre.