Aber er hatte noch Zeit. Er konnte zuerst seinen Durst stillen und seine beiden Füße fest auf den Boden pflanzen. Außerdem war sein Plan hier bereits in Bewegung gesetzt worden. Bevor er Rom verlassen hatte, hatte er seinen alten Handlanger Sergei aufgetrieben und ihn hierher vorausgeschickt. Wenn alles nach Plan verlaufen war, war Sergei bereits hier und hart an der Arbeit, ihre Mission zu erfüllen und Aidens Clan zu infiltrieren. Kyle grinste breit. Er liebte nichts mehr als einen Verräter, ein kleines Wiesel wie Sergei. Er hatte sich zu einem äußerst nützlichen Spielzeug entwickelt.
Kyle sprang wie ein Schuljunge voll Freude die Treppen hinunter, bereit, sich direkt auf die Stadt zu stürzen und sich zu nehmen, was immer er wollte.
Als Kyle die Straße entlang lief, sprach ihn ein Straßenkünstler an, ihm Leinwand und Pinsel entgegenstreckend, ihm deutend, er möge ihm gestatten, ihn zu malen. Wenn Kyle eines hasste, dann war das jemand, der ihn malen wollte. Er hatte aber so gute Laune, dass er beschloss, den Mann am Leben zu lassen.
Doch als der Mann nicht nachgab und Kyle aggressiv nachlief und ihm die Leinwand entgegenstieß, verspielte er sein Glück. Kyle holte aus, packte seinen Pinsel und stieß ihm dem Mann direkt zwischen die Augen. Eine Sekunde später brach der Mann tot zusammen.
Kyle nahm die Leinwand und zerfetzte sie über der Leiche.
Kyle setzte recht selbstzufrieden seinen Weg fort. Es war jetzt schon eine großartige Nacht.
Als er in eine gepflasterte Gasse einbog, auf dem Weg in den Bezirk, an den er sich erinnerte, fühlte sich alles langsam wieder vertraut an. Mehrere Huren säumten die Straßen und winkten ihn zu sich. Gleichzeitig stolperten zwei große Männer aus einer Kneipe hervor, eindeutig betrunken, und stießen Kyle hart an, nicht darauf achtend, wohin sie gingen.
„He, du Idiot!“, schrie ihn einer von ihnen an.
Der andere wandte sich Kyle zu. „He, Einauge!“, schrie er. „Pass auf, wo du hinläufst!“
Der große Mann hob die Arme, um Kyle einen kräftigen Stoß an die Brust zu versetzen.
Doch seine Augen weiteten sich überrascht, als sein Stoß keine Wirkung zeigte. Kyle war nicht von der Stelle gerückt; es war, als hätte er eine Steinmauer gestoßen.
Kyle schüttelte langsam den Kopf, erstaunt über die Dummheit dieser Männer. Bevor sie reagieren konnten, griff er nach hinten über seine Schulter, zog sein Schwert mit einem Klirren, und mit einer fließenden Bewegung schwang er es und schlug ihnen beiden im Bruchteil einer Sekunde die Köpfe ab.
Er sah zufrieden zu, wie ihre Köpfe davonrollten und beide Körper zu Boden sackten. Er steckte sein Schwert weg, packte eine der kopflosen Leichen und zog sie zu sich. Er versenkte seine Fangzähne direkt im offenen Hals und trank herzhaft, während das Blut herausspritzte.
Kyle konnte die Schreie der Huren um ihn herum ausbrechen hören, als sie sahen, was geschah. Dem folgten die Geräusche von Türen und Fensterläden, die zugeschlagen wurden.
Die ganze Stadt hatte jetzt schon vor ihm Angst, erkannte er.
Gut, dachte er sich. Das war eine Begrüßung, wie er sie gern hatte.
KAPITEL SIEBEN
Caitlin und Caleb flogen weg von Paris, bei Tagesanbruch über die französische Landschaft; sie klammerte sich fest an seinen Rücken, während er durch die Luft sauste. Sie fühlte sich inzwischen stärker und hatte das Gefühl, wenn sie fliegen wollte, dann könnte sie dies nun. Doch sie wollte ihn nicht loslassen. Sie liebte es, wie sein Körper sich anfühlte. Sie wollte ihn einfach nur festhalten, spüren, wie es war, wieder zusammenzusein. Sie wusste, es war verrückt, aber nachdem sie so lange getrennt gewesen waren, hatte sie Angst, dass er für immer davonfliegen würde, wenn sie ihn nun losließ.
Unter ihnen änderte sich die Landschaft ständig. Recht bald verschwand die Stadt, und die Landschaft wurde zu dichten Wäldern und sanften Hügeln. Näher an der Stadt lagen gelegentlich Häuser, Bauernhöfe. Doch je weiter sie sich entfernten, umso offener wurde das Land. Sie kamen an einem Feld nach dem anderen vorbei, weitläufigen Wiesen, gelegentlichen Bauernhöfen, grasenden Schafen. Aus Schornsteinen stieg Rauch auf, und sie nahm an, dass Leute am Kochen waren. Wäscheleinen spannten sich über Rasen, und Laken hingen von ihnen herunter. Es war ein idyllischer Anblick, und die Juli-Temperaturen waren gerade genug gesunken, dass die kühlere Luft, besonders so hoch hier oben, erfrischend war.
Nach stundenlangem Fliegen machten sie eine Kurve, und der neue Ausblick raubte Caitlin den Atem: da am Horizont lag ein schimmerndes Meer, leuchtend blau, dessen Wellen gegen eine endlose, unberührte Küste rauschten. Als sie näherkamen, stieg das Land höher an, und die sanften Hügel kamen direkt ans die Küste heran.
Eingebettet in die Hügel, inmitten des hohen Grases, sah sie ein vereinzeltes Gebäude am Horizont stehen. Es war eine prächtige mittelalterliche Burg, aus antikem Kalkstein gestaltet, übersät mit kunstvollen Skulpturen und Wasserspeiern. Sie lag hoch auf einem Hügel eingebettet, überblickte das Meer und war umringt von Feldern von Wildblumen, soweit das Auge reichte. Es war atemberaubend schön, und Caitlin fühlte sich, als wäre sie in einer Postkarte gelandet.
Caitlins Herz schlug vor Aufregung hoch, als sie sich fragte, ob dies, wie sie zu träumen wagte, Calebs Heim sein konnte. Irgendwie spürte sie, dass es das war.
„Ja“, rief er ihr durch den Wind zu, wie immer ihre Gedanken lesend. „Hier ist es.“
Caitlins Herz pochte vor Entzücken. Sie war so aufgeregt, und fühlte sich so stark, dass sie bereit war, selbst zu fliegen.
Sie sprang plötzlich von Calebs Rücken herunter und schwang sich durch die Luft. Einen Moment lang war sie entsetzt, unsicher, ob ihre Flügel hervortreten würden. Doch einen Moment später taten sie es und trugen sie durch die Luft.
Sie liebte das Gefühl, wie die Luft durch sie floss. Es fühlte sich toll an, sie wiederzuhaben, unabhängig zu sein. Sie stieg und fiel, schoss in die Höhe neben Caleb, der ihr Lächeln erwiderte. Sie stürzten sich gemeinsam in die Tiefe, dann hoch, schwangen sich hin und her durch die Luftlinie des anderen, und manchmal berührten sich ihre Flügelspitzen.
Gemeinsam schwangen sie sich hinunter, auf die Burg zu. Sie sah uralt aus; sie wirkte abgenutzt, aber nicht auf schlechte Art. Für Caitlin fühlte sie sich jetzt schon an wie ein Zuhause.
Während sie alles in sich aufnahm, die Landschaft betrachtete, die sanften Hügel, den fernen Ozean, verspürte sie das erste Mal seit sie sich erinnern konnte eine Art Frieden. Sie fühlte sich, als wäre sie endlich zuhause. Sie konnte ihr gemeinsames Leben mit Caleb hier sehen, zusammenleben, vielleicht sogar noch einmal eine Familie gründen, wenn das möglich war. Sie würde glücklich den Rest ihrer Tage hier mit ihm verbringen—und endlich, endlich, konnte sie nichts sehen, dass ihnen dazu im Weg stand.
*
Caitlin und Caleb landeten zusammen vor seiner Burg, und er nahm ihre Hand und führte sie zum Eingangstor. Die Eichentür war von einer dicken Schicht Staub und Meersalz überzogen und war eindeutig schon jahrelang nicht geöffnet worden. Er probierte den Türknauf. Sie war verschlossen.
„Es ist hunderte Jahre her“, sagte er. „Ich bin freudig überrascht, dass sie überhaupt noch hier ist, nicht von Vandalen zerstört—dass sie sogar immer noch verschlossen ist. Es gab da einen Schlüssel…“
Er streckte die Hand hoch über den Türrahmen hinaus und fühlte die Kerbe hinter dem Steinbogen. Er suchte sie mit den Fingern ab, und schließlich hielt er inne und holte einen langen silbernen Skelettschlüssel hervor.