Sie hatten über Astrologie gesprochen, welche im Kloster nicht getrieben wurde und verboten war, und Narziss hatte gesagt, Astrologie sei ein Versuch, in die vielen verschiedenen Arten von Menschen, Schicksalen und Bestimmungen Ordnung und System zu bringen. Hier setzte Goldmund ein: »Immer sprichst du von den Verschiedenheiten – ich habe allmählich erkannt, dass dies deine besonderste Eigenschaft ist. Wenn du von dem großen Unterschied sprichst, der zum Beispiel zwischen dir und mir bestehe, dann will mir scheinen, der Unterschied bestehe in nichts anderem als eben in deinem merkwürdigen Versessensein auf das Finden von Unterschieden!«
Narziss: »Gewiss, du triffst damit den Nagel auf den Kopf[34]. In der Tat: dir sind die Unterschiede nicht sehr wichtig, mir aber scheinen sie das einzig Wichtige zu sein. Ich bin meinem Wesen nach Gelehrter, meine Bestimmung ist die Wissenschaft. Und Wissenschaft ist, um dein Wort zu zitieren, gar nichts anderes als eben das »Versessensein auf das Finden von Unterschieden«. Man könnte ihr Wesen gar nicht besser bezeichnen. Für uns Wissenschaftsmenschen ist nichts wichtig als das Feststellen von Verschiedenheiten, Wissenschaft heißt Unterscheidungskunst. Zum Beispiel an jedem Menschen die Merkmale finden, die ihn von den andern unterscheiden, heißt ihn erkennen.«
Goldmund: »Nun ja. Einer hat Bauernschuhe an und ist ein Bauer, ein anderer hat eine Krone auf und ist ein König. Das sind allerdings Unterschiede. Sie werden aber auch von den Kindern gesehen, ohne alle Wissenschaft.«
Narziss: »Wenn der Bauer und der König aber beide gleiche Kleider anhaben, dann kennt das Kind sie nicht mehr auseinander.«
Goldmund: »Die Wissenschaft auch nicht.«
Narziss: »Vielleicht doch. Sie ist ja nicht klüger als das Kind, das sei zugegeben, aber sie ist geduldiger, sie merkt sich nicht bloß die gröbsten Kennzeichen.«
Goldmund: »Das tut jedes kluge Kind auch. Es wird den König am Blick erkennen oder an der Haltung. Und kurz gesagt: ihr Gelehrte seid hochmütig, ihr haltet uns andere stets für dümmer. Man kann ohne alle Wissenschaft sehr klug sein.«
Narziss: »Es freut mich, dass du das einzusehen beginnst. Nun wirst du bald auch einsehen, dass ich nicht die Klugheit meine, wenn ich vom Unterschied zwischen dir und mir rede. Ich sage ja nicht: du bist klüger oder dümmer, besser oder schlechter. Ich sage nur: du bist anders.«
Goldmund: »Das ist leicht zu verstehen. Du sprichst aber nicht nur von Unterschieden der Merkmale, du sprichst oft auch von Unterschieden des Schicksals, der Bestimmung. Warum zum Beispiel solltest du eine andere Bestimmung haben als ich? Du bist wie ich ein Christ du bist wie ich zum Klosterleben entschlossen, du bist wie ich ein Kind des guten Vaters im Himmel. Unser beider Ziel ist dasselbe: die ewige Seligkeit. Unsere Bestimmung ist dieselbe: die Rückkehr zu Gott.«
Narziss: »Sehr gut. Im Lehrbuch der Dogmatik ist freilich ein Mensch genau wie der andere, im Leben aber nicht. Mir scheint: der Lieblingsjünger des Erlösers[35], an dessen Brust er ruhte, und jener andere Jünger, der ihn verriet – die haben doch wohl beide nicht dieselbe Bestimmung gehabt?«
Goldmund: »Du bist ein Sophist, Narziss! Auf diesem Wege kommen wir einander nicht näher.«
Narziss: »Wir kommen auf keinem Wege einander näher.«
Goldmund: »Sprich nicht so!«
Narziss: »Es ist mein Ernst. Es ist nicht unsere Aufgabe, einander näherzukommen, sowenig wie Sonne und Mond zueinander kommen oder Meer und Land. Wir zwei, lieber Freund, sind Sonne und Mond, sind Meer und Land. Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im andern das sehen und ehren zu lernen, was er ist: des andern Gegenstück und Ergänzung.«
Betroffen hielt Goldmund den Kopf gesenkt, sein Gesicht war traurig geworden. Endlich sagte er: »Ist es darum, dass du meine Gedanken so oft nicht ernst nimmst?«
Narziss zauderte ein wenig mit der Antwort. Dann sagte er mit heller, harter Stimme: »Es ist darum. Du musst dich daran gewöhnen, lieber Goldmund, dass ich nur dich selbst ernst nehme. Glaube mir, ich nehme jeden Ton deiner Stimme, jede deiner Gebärden, jedes Lächeln von dir ernst. Aber deine Gedanken, die nehme ich weniger ernst. Ich nehme an dir das ernst, was ich als wesentlich und notwendig erfinde. Warum willst du denn gerade deinen Gedanken besondere Beachtung zugewendet sehen, da du so viele andere Gaben hast?«
Goldmund lächelte bitter: »Ich sagte es ja, du hast mich immer bloß für ein Kind gehalten!«
Narziss blieb fest. »Einen Teil deiner Gedanken halte ich für Kindergedanken. Erinnere dich, wir sprachen vorher davon, dass ein kluges Kind durchaus nicht dümmer zu sein brauche als ein Gelehrter. Wenn aber das Kind über Wissenschaft mitreden will, wird der Gelehrte es eben nicht ernst nehmen.«
Heftig rief Goldmund: »Auch wenn wir nicht über Wissenschaft reden, belächelst du mich! Du tust zum Beispiel immer so, als sei meine ganze Frömmigkeit, meine Bemühungen um Fortschritte im Lernen, mein Wunsch nach dem Mönchtum bloß Kinderei!«
Ernst blickte Narziss ihn an: »Ich nehme dich ernst, wenn du Goldmund bist. Du bist aber nicht immer Goldmund. Ich wünsche mir nichts anderes, als dass du ganz und gar Goldmund würdest. Du bist kein Gelehrter, du bist kein Mönch – einen Gelehrten oder einen Mönch kann man aus geringerem Holz machen. Du glaubst, du seiest mir zu wenig gelehrt, zu wenig Logiker, oder zu wenig fromm. O nein, aber du bist mir zu wenig du selbst.«
Hatte sich auch Goldmund nach diesem Gespräch betroffen und sogar verletzt zurückgezogen, schon nach wenigen Tagen zeigte er dennoch selbst Verlangen nach seiner Fortsetzung. Diesmal nun gelang es Narziss, ihm ein Bild von den Unterschieden ihrer Naturen zu geben, das er besser annehmen konnte.
Narziss hatte sich warm geredet[36], er fühlte, dass Goldmund heute seine Worte offener und williger in sich einließe, dass er Macht über ihn habe. Er ließ sich durch den Erfolg verführen, mehr zu sagen, als er beabsichtigt hatte, er ließ sich von seinen eigenen Worten hinreißen.
»Schau«, sagte er, »es gibt nur einen einzigen Punkt, in dem ich dir überlegen bin: ich bin wach, während du nur halbwach bist und zuweilen völlig schläfst. Wach nenne ich den, der mit dem Verstand und Bewusstsein sich selbst, seine innersten unvernünftigen Kräfte, Triebe und Schwächen kennt und mit ihnen zu rechnen weiß. Dass du das lernst, das ist der Sinn, den die Begegnung mit mir für dich haben kann. Bei dir, Goldmund, sind Geist und Natur, Bewusstsein und Traumwelt sehr weit auseinander. Du hast deine Kindheit vergessen, aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie um dich. Sie wird dich so lange leiden machen, bis du sie erhörst. – Genug davon! Im Wachsein, wie gesagt, bin ich stärker als du, hier bin ich dir überlegen und kann dir darum nützen. In allem andern, Lieber, bist du ja mir überlegen – vielmehr du wirst es sein, sobald du dich selbst gefunden hast.«
Goldmund hatte staunend zugehört, aber bei dem Wort »Du hast deine Kindheit vergessen« zuckte er auf wie von einem Pfeil getroffen[37], ohne dass Narziss es beachtete, der nach seiner Art während des Sprechens die Augen oft lange geschlossen hielt oder vor sich hinstarrte, als fände er die Worte so besser. Er sah nicht, wie Goldmunds Gesicht plötzlich zuckte und zu verwelken begann.
»Überlegen – ich dir!« stammelte Goldmund, nur um etwas zu sagen, er war wie von einer Starre befallen.
»Gewiss«, sprach Narziss weiter. »Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Mir scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben…«