Nach drei langen Wochen beschloß Bolitho, nicht länger zu warten. Er rief Tyrell in die Kajüte und rollte seine Seekarte auf.
«Wir werden morgen bei Tagesanbruch zur Küste segeln, Jethro.
Der Wind ist noch immer stark, aber ich sehe keine andere Möglichkeit.»
Tyrell ließ die Augen über die Karte wandern. Die Anfahrt nach Rhode Island war bei anhaltendem Westwind immer ein Problem. In einen Sturm zu geraten, konnte erneutes Abdriften nach Osten bedeuten, und wenn sie einmal in den Klammern des Festlandes und Newports selbst waren, dann blieb wenig Raum für Segelmanöver. Unter normalen Umständen erforderte es schon Geduld und Verstand. Da aber die Franzosen die Kontrolle über das Gebiet hatten, war es völlig tollkühn.
Als ob er seine Gedanken lesen könnte, sagte Bolitho ruhig:
«Ich möchte natürlich nicht an eine Leeküste geraten. Wenn wir aber hier auf offener See bleiben, können wir genausogut zugeben, daß unsere Mission ein Fehlschlag war.»
«Aye. «Tyrell streckte sich.»Ich bezweifle sowieso, daß die Franzosen viele Schiffe haben. Sie verlassen sich auf ihre Batterien, um sich zu verteidigen.»
Bolitho lächelte, etwas Spannung wich aus seinem Gesicht.»Gut. Geben Sie die Befehle. Ich möchte morgen die allerbesten Leute im Ausguck haben.»
Aber entsprechend Buckles düsterer Vorahnung war der nächste Morgen eine Enttäuschung. Der Himmel war bewölkt, und der Wind, der die Topsegel wild krachen ließ, zeigte nahen Regen an. Und doch war die Luft so schwül und drückend, daß die Toppsgasten stöhnten, als sie zum Kurswechsel auf ihre Stationen gingen. Der willkommene Aufenthalt im Hafen, gefolgt von der nervösen Unsicherheit, von der Laune des Windes hierhin und dorthin geworfen zu werden, dies alles forderte seinen Tribut. Viele Flüche wurden laut, und die Maaten mußten einige Schläge austeilen, ehe sich die Sparrow auf Backbordkurs legte; ihr Bugspriet zeigte wieder einmal auf die Küste zu.
Ein grauer Tag. Bolitho griff in die Luvwanten und wischte sich die Stirn mit dem Hemdsärmel ab. Seine Haut und seine Kleider waren tropfnaß, sowohl von Schweiß als auch von fliegender Gischt.
Nur Majendie schien es zufrieden zu sein, an Deck zu bleiben. Sein Bleistift fuhr geschäftig über das Papier, sein dünner Körper und der vorstehende Bart tropften vor Feuchtigkeit.
«Land in Luv!»
Bolitho versuchte, seine Befriedigung und Erleichterung nicht zu zeigen. Bei der schlechten Sicht und dem starken Wind konnte man sich nicht zu sehr auf Berechnungen verlassen. Er schaute zum Großmastwimpel hinauf. Der Wind war etwas stärker geworden. Er starrte den Wimpel an, bis seine Augen tränten. Kein Zweifel. Gut für eine stetige Annäherung, aber nicht so beruhigend, wenn man umdrehen und schnell weg müßte.»Gehen Sie einen Strich höher, Mr. Buckle.«»Aye, aye, Sir.»
Buckle wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab, ehe er seine Befehle weitergab. Er war sich wohl über die Schwierigkeiten im klaren, dachte Bolitho. Es würde zu nichts führen, ihn noch weiter zu beunruhigen.
Zu Majendie sagte er:»Hoffentlich bringen Sie alles zu Papier. Sie werden ein Vermögen machen, wenn Sie nach England zurückkehren.»
Buckle schrie:»Nord-Nordost, Sir! Kurs liegt an!»
«Sehr gut. Kurs halten.»
Bolitho ging ein paar Schritte und dachte an das Mädchen in New York. Was hätte sie jetzt von ihm gehalten? Zerknittert und durchnäßt bis auf die Haut, sein Hemd mehr Flicken als Stoff. Er lächelte vor sich hin und bemerkte Majendies Bleistift nicht, der seine Stimmung festhielt.
Tyrell hinkte auf Deck und kam zu ihm an die Wanten.»Ich schätze, daß Newport ungefähr fünf Meilen steuerbord voraus liegt. «Er blickte erstaunt auf, als ein Strahl wäßrigen Sonnenlichts auf dem Rumpf spielte.»Teufel, in diesen Gewässern weiß man nie, woran man ist.»
«Wahrschau an Deck! Schiffe vor Anker in Nordost!»
Tyrell rieb sich die Hände.»Vielleicht stellen die Franzosen einen Konvoi zusammen. Unsere Schwadron kann sie schnappen, wenn wir es schnell genug melden.»
Der Ausguck schrie wieder:»Sechs, nein, acht Linienschiffe, Sir!»
Graves stolperte von der Reling, als die Sparrow in ein tiefes Wellental schlingerte.»Der Mann ist verrückt!«Er spuckte, als Gischt wie Hagel über die Wanten hereinbrach und sich über ihn ergoß.»Höchstens ein paar Fregatten, wenn Sie mich fragen!»
Bolitho versuchte, das Gemurmel von Spekulation und Zweifel um sich herum zu ignorieren. Es war wohlbekannt, daß de Grasse eine mächtige Flotte in den West Indies hatte. Sein Untergebener de Barras war Kommandeur in Newport, hatte aber keine solche Flottenstärke. Seine Stärke lag in Fregatten und kleineren Schiffen und in schnellen Ausfällen gegen den englischen Küstenhandel. De Barras hatte einen Versuch gemacht, die New Yorker Streitkräfte vor Cape Henry anzugreifen, aber
die Aktion war erfolglos gewesen. Er war auf seine Verteidigungslinie zurückgegangen und dort geblieben.
Er sagte:»Hinauf mit Ihnen, Mr. Graves. Und melden Sie, was Sie sehen!»
Graves eilte zu den Wanten und murmelte:»Dieser Verrückte! Es können keine Linienschiffe sein. Unmöglich.»