»Schцn war's«, antwortete Eva. »Aber ich bin jetzt mьde. Ich will schlafen.«
Eva stieg die Treppe hinauf, unendlich viele Stufen hatte die Treppe. Oben stand Michel und schaute zu ihr herunter. Oder war es Karola? Karolas Kцrper mit Michels Gesicht? Als sie nдher kam, die Beine schleppten schon, zerfiel Karola-Michel, zerfiel in kaleidoskopartige Stьckchen. Eva schloss die Augen. Auf Hдnden und FьЯen kroch sie weiter die Treppe hinauf. Endlich wagte sie, die Augen wieder zu цffnen. Dort oben stand Michel, viel weiter oben jetzt. Er hatte ihr den Rьcken zugedreht. »Michel«, rief sie. »Michel!« Er drehte sich um. »Komm nicht«, sagte er mit einer ganz fremden Stimme. »Geh zurьck oder ich werde dich erstechen.« Jetzt erst sah Eva, dass er in der Hand einen Sдbel trug. Die Klinge blitzte, als er ihn langsam hochhob. Eva schrie, drehte sich um und wollte die Treppe hinunterlaufen. Aber vor ihr war nur ein Loch, ein gдhnendes, graues, endloses Loch. Das gibt es doch nicht, dachte Eva. Eine Treppe kann doch nicht plцtzlich weg sein. Da fiel sie in das Loch, ein endloses Fallen war das. Die Angst drьckte ihr die Luft ab und erstickte ihren Schrei. Das Blut hдmmerte in ihrem Kopf, und in dem Moment, als sie dachte, jetzt, jetzt schlage ich auf, jetzt werde ich sterben, jetzt, jetzt, in diesem Moment wachte sie auf, merkte, dass sie in ihrem Bett lag, und fing vor Erleichterung an zu weinen. Im Kьhlschrank war noch eine Schьssel Pudding. Schokoladenpudding. Sonntag. Eva hasste diese Sonntage, die immer gleichen Sonntage, die sich fast nur durch Regen, Sonne, Schnee und Wind unterschieden und gelegentlich durch einen Kinobesuch. Sie hasste sie noch mehr als die Wochentage, an denen sie wenigstens die Hoffnung haben konnte, dass irgendetwas passierte, dass jemand mit ihr sprach oder dass Franziska ihre Hand auf ihren Arm legte und ihr etwas erzдhlte. Sonntag, das hieЯ Lernen, um die Langeweile zu ьbertцnen, englische Vokabeln gegen das Gedudel von Bayern drei, mathematische Gleichungen gegen den rьlpsenden Sonntagsfrieden.
Zum Frьhstьck saЯ die Familie um den Tisch, um die dampfende Kaffeekanne und den Sonntagskuchen. Mutter im geblьmten Morgenrock, steif, Nylon, dunkelrote Rцschen auf rosa Grund, und der Vater, noch nicht rasiert, mit dunkelblauem Bademantel ьber dem Schlafanzug, blauweiЯ gestreift.
»Einen guten Kuchen hat unsere Mama wieder ge-backen«, sagte der Vater und die Mutter schaute auf ihren Teller und antwortete: »Ein bisschen braun ist er geworden. Ich hдtte den Herd fьnf Minuten eher ausmachen sollen.« Oder sie sagte: »Die Kдsefьllung istein bisschen zu feucht. Die Unterhitze im Herd funktioniert nicht mehr so richtig.«
»Nein, Marianne«, widersprach der Vater. »Der Kuchen ist wirklich gut. Nicht wahr, Kinder?«
Eva und Berthold stopften den Kuchen in sich hinein und murmelten mit vollem Mund »besonders gut«, wie jeden Sonntag.
Um halb zwцlf Aufbruch der ganzen Familie zum Mittagessen bei Oma. »Wir halten das Familienleben hoch«, hatte die Mutter zur Schmidhuber gesagt. »Ich sage immer, es gibt nichts Wichtigeres fьr Kinder als ein gutes Familienleben. Und dazu gehцrt, dass wir jeden Sonntag bei den Eltern meines Mannes zu Mittag essen.« Und die Schmidhuber hatte genickt und gesagt, wenn alle Familien so intakt waren, gдbe es weniger Jugendkriminalitдt. Eva hдtte am liebsten laut ge-
schrien.
Alle waren ordentlich angezogen und gekдmmt. Fingernдgelkontrolle. Evas Fingernдgel waren immer sehr kurz geschnitten, bis zur Fingerkuppe musste sie sie herunterschneiden, um die zerbissenen und zerfransten Rдnder wieder glatt zu bekommen.
Berthold, mьrrisch, schlecht gelaunt, erwischte noch schnell eine Ohrfeige, sonntags, beim Aufbruch, weil er lieber FuЯball gespielt hдtte drьben in den Anlagen, mit seinen Freunden, und es nicht schaffte, wortlos zu verzichten, schweigend seinen Wunsch zu unterdrьcken.
»Aber Fritz, doch nicht am Sonntag!«, sagte die Mutter.
»Wenn er es aber verdient hat!«, antwortete der Vater.
Bei schцnem Wetter gingen sie
zu FuЯ, nur wenn es regnete, nahmen sie das Auto. »Das tut gut nach einer Woche im Bьro«, sagte der Vater und dehnte seine Schultern, ging mit federnden Schritten, ein stattlicher Mann, durch die sonntдglich leeren StraЯen. Von der Anlage drьben hцrte man das Geschrei der Buben: »Toooor!« Berthold drehte den Kopf zur Seite. Auf seiner Backe sah man noch die rцtlichen Spuren der Ohrfeige.
Eva trottete hinter den anderen her. Sie ging nicht gern zur Oma. Noch nie war sie gern zur Oma gegangen.
Sie erinnerte sich noch genau, wie das damals war, als sie bei Oma gewesen war. Als Mama im Krankenhaus gewesen war. »Evachen hier« und »Evachen da« und der Geruch von Putzmitteln ьberall. »Rдum auf, Evachen. Ein braves Mдdchen isst seinen Teller leer. Ein braves Mдdchen rдumt seine Spielsachen weg. Ein braves Mдdchen gibt der Oma ein Kьsschen.« Eva hatte nur noch auf den Vater gewartet.
Sie war schon fьnf gewesen bei Bertholds Geburt, sie erinnerte sich an die Freude des Vaters, die laute, aufgeregte Stimme. »Stellt euch vor, ein Junge! Es ist tatsдchlich ein Junge.« Das Lachen des Vaters war an-