„Dein was?“, antwortete ihre Mutter heiser.
Olivia war sich sicher, dass sie ihr die Fakten gerade deutlich vermittelt hatte und dass die Telefonverbindung kristallklar war. Sie hatte nur Schwierigkeiten, alles zu verarbeiten.
„Mein eigenes Weinlabel“, wiederholte sie, nur für alle Fälle.
„Ich kann das nicht glauben“, flüsterte ihre Mutter. „Olivia, das ist doch Irrsinn.“ Als sie fortfuhr, klang sie zunehmend misstrauisch. „Hast du etwa falschen Umgang? Hat man dich einer Gehirnwäsche unterzogen, oder bist du von einer Sekte gekidnappt worden, die mit deinem Geld ihre Machenschaften finanziert? Wenn du Hilfe brauchst, mein Engel, dann sag nur das Wort – das Wort – lass mich kurz überlegen, welches Wort man unauffällig in ein Gespräch einbauen kann. Das Wort ‚Wasser‘ wird reichen! Benutze es ganz deutlich in deiner Antwort an mich, und ich werde sofort die Behörden verständigen.“
Olivia erreichte den Fuß der Treppe.
„Können wir los?“, fragte Charlotte, die sich von ihrem Schneidersitz auf der Veranda hochrappelte.
„Ja“, antwortete Olivia ihrer Freundin schnell. Sie musste dieses nervige Gespräch endlich beenden und ihrer Mutter auf Widersehen sagen. Das Abendessen rief, und im Moment, nach diesem Tag, rief es besonders laut.
Olivia blickte hinab auf den frisch gepflanzten Weingarten.
„Oh, wir sollten die Gießkanne wegräumen. Die Samen brauchen erst mal kein Wasser mehr“, fügte sie schnell an Charlotte gerichtet hinzu, als sie den hellgrünen Farbfleck auf dem sandigen Beet bemerkte.
Olivias Mutter schrie auf.
„Das Codewort! Ich wusste es! Andrew, Olivia ist von einer Sekte einer Gehirnwäsche unterzogen worden, die sie gezwungen hat, eine Farm in der Toskana zu kaufen, die sie nun als Hauptquartier nutzt! Wir müssen dieses Telefonat sofort zurückverfolgen und ihr Hilfe verschaffen! Arbeitet das FBI auch in Italien?“
„Mum, mir geht’s gut!“, protestierte Olivia. „Ich muss los. Ich brauche keine Hilfe, und ich bin auch in keiner Sekte. Ich bin gerade auf dem Weg in ein Restaurant. Ich rufe dich morgen an. Hab dich lieb! Hab dich lieb, Dad! Alles ist gut! Versprochen!“
Sie hing auf und hoffte, dass ihre Worte überzeugend genug gewesen waren.
Sie traute es ihrer Mutter zu, das ganze FBI in die Toskana zu beordern, um Olivia von einer imaginären Sekte zu retten.
KAPITEL SECHS
Am nächsten Morgen wurde Olivia um halb sechs von ihrem Wecker geweckt.
Sie sprang aufgeregt aus dem Bett und blickte durch das große Fenster der Villa hinaus auf den Sonnenaufgang. Was für ein glorreicher Morgen! Die Luft war frisch und kühl, und die Schatten der Bäume breiteten sich über den tiefgrünen Wiesen aus. Dahinter erstreckten sich die Berge und Felder im nebligen Morgenlicht bis hin zum fernen Horizont.
Da der Verkostungsraum seine Pforten erst am Vormittag öffnete, hatte sie sich angewöhnt, bis acht Uhr auszuschlafen. So früh am Tage schon wach zu sein fühlte sich wie ein Abenteuer an.
Heute war der Tag des Ausflugs nach Pisa mit Marcello. Geschäftstrip, korrigierte sich Olivia hastig. Kein Ausflug, das durfte sie nicht vergessen. Geschäftstrip.
Es wird bestimmt ein langer, anstrengender Tag, redete sie sich streng ein. Sie würde professionell und aufmerksam sein müssen, um zu lernen, was sie nur konnte, selbst wenn die Unterhaltungen mit seinen Kollegen und Kunden auf Italienisch stattfinden würden.
Obwohl es ein Geschäftstrip war, hoffte sie, dass sie vielleicht die Chance haben würden, sich den Schiefen Turm von Pisa ansehen zu können, auch wenn es nur ein kurzer Blick von der Straße aus sein würde. Das war einer der Orte, den sie schon immer mal sehen wollte. In Gesellschaft von Marcello wäre es natürlich noch tausend Mal besser.
Olivia ermahnte sich streng, nicht zu aufgeregt zu sein. Das war ein geschäftlicher Ausflug, und sie musste es locker angehen.
Sie verließ das luftige Schlafzimmer und betrat das luxuriöse, anliegende Badezimmer. Sie duschte, stylte ihr schulterlanges, blondes Haar und nahm noch ein paar letzte Änderungen an ihrem Outfit vor, das sie am Abend zuvor herausgesucht hatte. Sie tauschte die schicken, hochhackigen Schuhe, die ihre erste Wahl gewesen waren, gegen Sommersandalen mit niedrigeren Absätzen, in denen sie leichter laufen konnte. Das türkise, knielange Kleid war perfekt, aber sie würde dazu ihre beigefarbene Lederjacke anziehen, welches mehr italienischen Flair ausstrahlte als die weiße Baumwolljacke, die sie sich gestern ausgesucht hatte.
Außerdem packte sie noch sowohl einen Notizblock und einen Stift als auch ihr Handyladegerät in ihre Handtasche. Und natürlich Lippenstift, Lipgloss und Parfüm, falls sie sich unterwegs noch einmal frisch machen musste.
Zum Beispiel bevor sie und Marcello zusammen zu Mittag essen würden.
Hör auf, sagte Olivia sich. Wahrscheinlich würde ihr Mittagessen aus einem schnellen Sandwich im Auto bestehen.
Sie blickte aus dem Fenster und bemerkte Erba, die von den Obstbäumen der Villa, wo sie sich an den herabgefallenen Granatäpfeln sattgegessen hatte, nun zielsicher auf das Haus zusteuerte. Gewöhnlich genoss Erba die zarten Sonnenstrahlen morgens auf der Fensterbank von Olivias Schlafzimmer, und sie hatte sich bereits an den ungewöhnlichen Anblick der sich sonnenden Ziege gewöhnt, wenn sie nach dem Aufwachen ihre Vorhänge zurückzog.
„Wir gehen heute früher zur Arbeit“, warnte sie Erba.
Nach einem letzten Check, dass sie auch alles hatte, was sie brauchte, eilte Olivia in die Küche. Von allen Räumen in der Villa liebte sie diesen am meisten. Der große, auffällige Wandfries mit zahllosen Trauben bedeckte eine der gekachelten Wände, und die Tontöpfe mit den Kräutern auf dem Fenstersims verströmten einen himmlischen Duft nach Rosmarin, Basilikum und Thymian. Am besten gefiel ihr an diesem Raum mit den angenehm warmen Farbtönen natürlich die große, rot- und chromfarbene Kaffeemaschine, die auf der Anrichte thronte.
Schnell verhalf sich Olivia zu einem doppelten Cappuccino und trank ihn, während sie aus dem Fenster auf den gefliesten Hof blickte, wo noch mehr Kräuter und Sträucher entlang den Steinmauern wuchsen. Genau so einen Hof wollte sie auch vor ihrer Farmhausküche haben. Vielleicht konnte sie die Fliesen sogar selbst verlegen. Sie liebte den Anblick. Alle Abschnitte mit Thymian und Katzenminze waren säuberlich voneinander abgegrenzt.
Genug geträumt, sagte sich Olivia, trank ihren Kaffee aus und schnappte sich ihre Handtasche.
„Komm, Erba“, rief sie, während sie durch den Flur nach draußen trat und vorsichtig die imposanten Türen hinter sich schloss. „Gassi!“
*
Um zehn vor sieben erreichte sie La Leggenda. Marcello war draußen bereits dabei, Wasserflaschen in eine Kühlbox und diese in den Kofferraum des SUVs zu laden. Sein dunkles Haar war frisch geschnitten und seine wirren Fransen fielen ihm jetzt nur noch bis zu den Augenbrauen. Er trug ein anthrazitfarbenes Hemd und eine schicke Jeans.
„Wir nehmen ein Geschenk mit“, erklärte er lächelnd. „Du siehst heute Morgen zauberhaft aus. Ich freue mich auf unseren Tag.“
„Ich mich auch“, sagte Olivia, durch sein Kompliment förmlich zum Glühen gebracht.
Er küsste sie auf beide Wangen, und sie spürte, wie ihre Knie sowohl durch diese Nähe als auch wegen des würzigen Aftershaves, das sie an seinen kräftigen, kantigen Wangenknochen erschnupperte, beinahe nachgaben.
Zum Glück hatte sie sich an diesen Effekt, den Marcello über sie hatte, bereits gewöhnt, und ihr rasendes Herz brauchte nicht lange, um wieder zu seiner normalen Geschwindigkeit zurückzukehren.