Es kam Riley also komisch vor, dass die Erfahrungen dieses Mädchens sich so von ihren eigenen unterschieden.
Die Leute mögen sie, nehme ich an.
Riley fühlte nicht gerade dasselbe für ihre neue Partnerin, obwohl sie zugeben musste, dass es wahrscheinlich nicht allein Ann Maries Schuld war. Es war nicht nur die hyper-fröhliche Persönlichkeit der jungen Frau, die ihr bitter aufstieß. Die Wahrheit war, dass Riley mehr als nur etwas irritiert war von dieser Ausgestaltung der Dinge. Sie konnte nicht anders, als zu denken, dass mit irgendjemand anders als mit Bill zusammenzuarbeiten, nie gutging. Ihre letzten Juniorpartnerinnen hatten nicht die FBI Karrieren eingeschlagen, für die sie vorbestimmt gewesen schienen.
Riley hatte Lucy Vargas wirklich ins Herz geschlossen und dann war alles wirklich schlimm ausgegangen. Ihr Tod hatte Bill an den Rand des Selbstmordes getrieben.
Es war schwieriger gewesen, sich an Jenn Roston zu gewöhnen, aber Riley und Jenn hatten einander über die Zeit einige ziemlich dunkle persönliche Geheimnisse anvertraut.
Riley begriff, dass sie sich immer noch nicht damit abgefunden hatte, dass Jenn weg war.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich umdrehen würde und erwartete dort Jenn statt Ann Marie zu sehen – erwarten würde Jenns starke, afro-amerikanische Gesichtszüge zu sehen, statt den blassen, perfekten Teint dieser jungen Frau; Jenns sichere, feste Stimme, anstatt all dieses zwitschernden Geplappers.
Riley unterdrückte ein Seufzen, als Ann Marie mit den Gerüchten aus der Academy fortfuhr.
Das hier wird nicht einfach, dachte sie.
Sie erinnerte sich an etwas, das Meredith gesagt hatte.
„Ich vermute, Sie werden diesem Streich auf den Grund gehen und morgen früh schon wieder auf dem Weg zurück sein.“
Riley hoffte das jedenfalls.
Obwohl heute noch besser wäre.
Sie hoffte ebenfalls, dass diese Partnerschaft nur eine einmalige Sache bleiben würde.
*
Als Riley über die Woodrow Wilson Memorial Brücke fuhr, und den Potomac Fluss nach Maryland überquerte, spürte sie, dass diese kurze Reise sich sehr viel länger anfühlte, als sie es eigentlich sein sollte. Ann Marie hatte aufgehört zu plappern, hatte aber das Autoradio aufgedreht und einen Pop-Sender gefunden, der viel zu fröhliche und dämliche Musik für Rileys Geschmack spielte. Sie war wirklich froh, wenn das GPS System die Musik hin und wieder unterbrach, um ihnen Fahranweisungen zu geben.
In der Zwischenzeit kehrten Rileys Gedanken immer wieder zu dem Treffen mit Meredith zurück. Sie verzog die Miene, als sie sich daran erinnerte, wie Meredith sie und Bill angestarrt hatte.
„Gibt es etwas, was Sie beide mir nicht sagen?“, hatte er gefragt.
Natürlich hatte Meredith Recht mit seinen Vermutungen. Schließlich hatte seine Vorladung ihr erstes echtes Date mit Bill unterbrochen – eine Entwicklung, die Meredith mit gutem Recht neugierig machen würde.
Und jetzt haben wir ihn angelogen.
Beide.
Sie schauderte, wenn sie an die Konsequenzen dachte, die diese Lügen eventuell haben könnten. Schlimmer noch, sie fühlte sich schuldig Meredith gegenüber. Er war ihr jahrelang ein intelligenter, fairer und respektvoller Vorgesetzter gewesen.
Wir hätten ihm die Wahrheit sagen sollen, dachte Riley.
Doch was war die Wahrheit denn genau?
Das war das wahre Problem. Sie wusste nicht, was sie Meredith hätten sagen können. Sie hatten keine Zeit gehabt es für sich selbst zu klären.
Riley und Bill wussten immer noch nicht in welche Richtung sich ihre Beziehung entwickelte. Sobald sie beide eine bessere Vorstellung davon haben würden, könnten sie sich womöglich mit Meredith zusammensetzen und reinen Tisch machen. Sie hoffte, dass Meredith verständnisvoll sein würde und sich vielleicht sogar für sie freuen würde.
Nach ungefähr einer Stunde Fahrt kamen sie in Winneway an, einer teuren, geschichtsbewussten Stadt. Riley fand es unpassend, dass einige der großen, schönen Häuser, deren Alter teilweise bis in die Kolonialzeiten zurückreichte, nun von Pools flankiert wurden. Riley fühlte sich immer fehl am Platz in solch wohlhabenden Gegenden. Die Menschen, denen sie in einem solchen Rahmen begegnete, tendierten dazu FBI Agenten eher wie Angestellte zu behandeln, als wie die hochqualifizierten Beamten, die sie waren.
Endlich ließ das GPS System sie wissen, dass sie am Ironwood Park angekommen waren – einer großflächigen gutgepflegten Grünlandschaft, auf der kleine Waldstücke verteilt waren. Die bunten Herbstblätter machten den Anblick besonders angenehm.
Riley bog auf eine kurvige Straße, die in den Park hineinführte. Bald schon stießen sie auf eine Gruppe haltender Fahrzeuge – ein paar Polizeiautos, das Auto des Bezirkssheriffs und der Van des Gerichtsmediziners.
„Hier muss es sein!“, zwitscherte Ann Marie fröhlich.
Riley zuckte bei der Unbeschwertheit von Ann Maries Ton zusammen. Sie hatte das Bedürfnis die junge Frau zu warnen, dass sie gleich eine todernste Situation betreten würden – einen Tatort, an dem die Leiche der Ermordeten immer noch anwesend war.
Doch Riley hielt sich davor zurück irgendetwas zu sagen.
Lassen wir es einfach eine Überraschung bleiben, dachte sie und unterdrückte ein ironisches Lächeln.
Sie wusste, dass Ann Marie während ihres Trainings an der Academy bereits Leichen gesehen hatte. Aber das war nur in einer klinischen, forensischen Umgebung. Eine Leiche am Tatort zu sehen war eine ganz andere Erfahrung – eine, auf die, da war sich Riley ziemlich sicher, diese scheinbar soziale Partymaus nicht vorbereitet war. Wenn die Neue das nicht verkraften könnte, wäre Riley mehr als bereit sie sofort zurück nach Quantico zu schicken.
Sie stiegen aus dem Auto und gingen zu einem Waldstück rüber, dass von der Polizei abgesperrt worden war. Riley war erfreut darüber zu sehen, dass eine Art Zelt zwischen den Bäumen errichtet worden war, offensichtlich um den Tatort vor den Elementen zu schützen. Ein paar Polizisten standen vor dem Zelt Wache.
Die Polizei hier weiß, was sie tut, dachte sie.
Riley und Ann Marie zeigten ihre Dienstmarken vor und schlüpften unter dem Absperrungsband hindurch, um ins Zelt zu gelangen. Das Innere des Zelts wurde von ein paar stehenden Flutlichtern erleuchtet. Ein paar Männer befanden sich im Inneren und standen um ein großes Loch an dessen einer Seite ein Haufen Erde aufgeschüttet war und auf dessen anderer Seite sich auf dem Boden eine bedeckte Leiche befand.
Riley stellte sich und die Junioragentin dem Bezirkssheriff Emory Wightman und dem Hauptgerichtsmediziner Mark Tyler vor, die auf ihre Ankunft gewartet hatten. Der Sheriff war ein solider Mann in seinen Vierzigern, obwohl ein Bierbauch vermuten ließ, dass er nicht wirklich auf seine Figur achtete. Der dünne und drahtige Gerichtsmediziner schien etwas älter zu sein. Beide Männer machten einen Moment lang einen bedrückten Eindruck, dann sagte Wightman endlich: „Ich nehme an, sie wollen die Leiche untersuchen.“
„Es ist kein schöner Anblick“, kommentierte Tyler.
Wightman fügte hinzu: „Ich nehme an, Agenten wie sie haben bereits sehr viele solcher Anblicke –“
„Natürlich“, unterbrach Riley ihn.
Sie vermutete, dass die Zurückhaltung des Sheriffs sich damit erklären ließ, dass beide Agentinnen Frauen waren, doch selbst wenn ihre jüngere Partnerin nicht bereit für den Anblick war, hatte Riley genug Leichen gesehen, um sich nicht vor dem, was sie erwartete, zu fürchten.