Doch in der Zwischenzeit hatte sie ein anderes Treffen.
In einer der Toilettenkabinen öffnete Maria ihre Handtasche und entnahm ihr eine wasserdichte Tüte aus dickem Plastik.
Bevor sie ihr Telefon, das ihr von der CIA ausgestellt wurde, darin versiegelte, rief sie die Mailbox ihrer privaten Linie an.
Es gab keine neuen Nachrichten. Es schien, als hätte Kent es aufgegeben, zu versuchen, sie zu erreichen. Er hatte ihr mehrere Nachrichten in den letzten Wochen hinterlassen, alle paar Tage eine weitere. In den kurzen, einseitigen Abschnitten hatte er ihr von den Mädchen berichtet, dass Sara immer noch mit dem Trauma der Ereignisse, die sie mitmachen musste, beschäftigt war. Er hatte seine Arbeit für die nationale Ressourcen Division erwähnt und wie langweilig sie war, im Vergleich zu den Einsätzen. Er hatte ihr gesagt, dass er sie vermisste.
Es war eine kleine Erleichterung, dass er es aufgegeben hatte. Jetzt musste sie mindestens nicht mehr der Klang seiner Stimme hören und sich dessen bewusst werden, wie sehr auch sie ihn vermisste.
Maria versiegelte das Telefon in der Plastiktüte und ließ es vorsichtig in den Spülkasten hinunter, bevor sie wieder den Deckel darauflegte. Sie wollte keine neugierigen Ohren riskieren, die ihrer Unterhaltung zuhören könnten.
Dann verließ sie die Toilette und ging den Terminal entlang zu einem Gate, an dem etwa zwei Dutzend Menschen warteten. Das Flugbrett kündigte an, dass das Flugzeug nach Kiew in eineinhalb Stunden abhöbe.
Sie saß in einem festgeschraubten Plastiksitz in einer Reihe von sechs. Der Mann war schon hinter ihr, er saß in der gegenüberliegenden Reihe und blickte in die andere Richtung. Er hielt ein Automagazin geöffnet vor sein Gesicht.
“Studentenblume”, sagte er mit einer rauen, doch leisen Stimme. “Berichte.”
“Es gibt nichts zu berichten”, antwortete sie auf ukrainisch. “Agent Null ist wieder zu Hause mit seiner Familie. Seitdem meidet er mich.”
“Oh?” fragte der Ukrainer neugierig. “Ist das so? Oder vermeidest du ihn?”
Maria blickte finster drein, doch drehte sich nicht, um den Mann anzusehen. Er behauptete so etwas nur, wenn er wüsste, dass es wahr wäre. “Überwacht ihr mein privates Handy?”
“Natürlich”, sagte der Ukrainer offen. “Es scheint, als ob Agent Null sehr dringend mit dir reden möchte. Warum hast du ihn nicht kontaktiert?”
Es ging den Ukrainer zwar nichts an, doch Maria war Kent aus dem einfachen Grund aus dem Weg gegangen, weil sie ihn erneut angelogen hatte – nicht nur einmal, sondern zweimal. Sie hatte ihm gesagt, dass die Ukrainer, mit denen sie arbeitete, Mitglieder des auswärtigen Geheimdienstes waren. Einige der Splittergruppe waren es vielleicht einst gewesen, doch sie waren dem FIS etwa so loyal gegenüber, wie sie es der CIA war.
Die zweite Lüge bestand darin, ihm zu sagen, dass sie nicht mehr mit ihnen arbeiten würde. Kent hatte sein Misstrauen den Ukrainern gegenüber klar ausgesprochen, als sie auf dem Weg waren, seine Töchter zu retten, und Maria hatte halbherzig versprochen, dass sie der Beziehung ein Ende setzen würde.
Doch das hatte sie nicht getan. Noch nicht. Es war auch ein Teil des Grundes für das Treffen in Istanbul. Es war noch nicht zu spät, ihr Wort einzuhalten.
“Wir sind fertig”, erklärte sie kurz. “Ich arbeite nicht mehr mit euch. Ihr wisst, was ich weiß und ich weiß, was ihr wisst. Wir können Informationen austauschen, um einen Fall aufzubauen, doch ich werde nicht mehr eure Botengänge für euch übernehmen. Und ich lasse Null da raus.”
Der Ukrainer war einen langen Moment still. Er schlug lässig eine Seite seines Automagazins um, so als läse er es tatsächlich. “Bist du dir sicher?” fragte er. “Neue Information ist vor kurzem ans Licht gekommen.”
Marias Augenbraue erhob sich instinktiv, doch sie war sich sicher, dass das nur eine Finte war, um sie weiter zu beschäftigen. “Was für neue Information?”
“Information, die dich interessiert”, antwortete der Mann geheimnisvoll. Maria konnte sein Gesicht nicht sehen, doch aufgrund seines Tonfalls hatte sie den Eindruck, dass er grinste.
“Du bluffst”, gab sie unverblümt zurück.
“Das tue ich nicht” versicherte er ihr. “Wir kennen seine Position. Und wir wissen, was geschehen könnte, wenn er seine Haltung beibehält.”
Marias Puls beschleunigte sich. Sie wollte ihm nicht glauben, doch sie hatte kaum die Wahl. Ihre Verwicklung in der Aufdeckung der Verschwörung, ihre Entscheidung, mit ihnen zu arbeiten und zu versuchen, an Information der CIA zu gelangen, bedeutete mehr als nur das Richtige zu tun. Natürlich wollte sie einen Krieg vermeiden, die Täter davon abhalten, ihre fälschlich errungenen Gewinne zu erhalten, unschuldige Menschen davor beschützen, verletzt zu werden. Doch viel mehr noch hatte sie ein persönliches Interesse an dem Komplott.
Ihr Vater war ein Mitglied des nationalen Sicherheitsrats, ein hoher Beamter, was internationale Angelegenheiten anbelangte. Auch wenn es sie beschämte, nur daran zu denken, war es dennoch ihre höchste Priorität, viel höher noch als Leben zu retten oder die Vereinigten Staaten davon abzuhalten, einen Krieg zu beginnen, herauszufinden, ob er daran beteiligt war, ob er ein Mitverschwörer war – und sollte er es nicht sein, ihn in Sicherheit vor jenen zu bringen, die alles täten, um ihren Willen durchzusetzen.
Maria konnte ihn nicht einfach anrufen und fragen. Ihre Beziehung war etwas angespannt, beschränkte sich hauptsächlich auf professionellen Smalltalk über Gesetzgebung und das gelegentliche Gespräch über ihre Privatleben. Wäre er sich der Verschwörung bewusst, dann hätte er außerdem auch keinen Grund, es offen vor ihr zuzugeben. Sollte dem nicht so sein, dann wollte er sicher handeln. Er war ein entschiedener Mann, der an Justiz und das Rechtssystem glaubte. Maria war eher etwas zynisch veranlagt und deshalb auch vorsichtig.
“Was meinst du mit,was geschehen könnte’?” wollte sie wissen. Die rätselhafte Erklärung des Ukrainers schien darauf hinzuweisen, dass ihr Vater nicht eingeweiht war, während sie gleichzeitig auch ein gewisses Gewicht einer Drohung in sich trug.
“Wir wissen es nicht”, antwortete er kurz.
“Wie habt ihr es rausgefunden?”
“E-Mails”, gab der Ukrainer zurück, “die von einem privaten Server stammen. Seine Name war erwähnt, zusammen mit zwei anderen, die… sich vielleicht nicht fügen.”
“Sowas wie eine Abschussliste?” fragte sie geradeheraus.
“Unklar.”
Frust breitete sich in ihrer Brust aus. “Ich will diese E-Mails lesen. Ich will es mit eigenen Augen sehen.”
“Das kannst du ja”, versicherte ihr der Ukrainer. “Doch nur, wenn du nicht darauf bestehst, mit uns zu brechen. Wir brauchen dich, Ringelblume. Du brauchst uns. Und wir alle brauchen Agent Null.”
Sie seufzte. “Nein. Haltet ihn da raus. Er ist zu Hause mit seiner Familie. Er muss sich jetzt darauf konzentrieren. Er ist ja nicht mal mehr ein Agent —”
“Doch er arbeitet immer noch für die CIA.”
“Er hat keine Loyalität zu ihnen —”
“Doch dir gegenüber schon.”
Maria schnaubte. “Er erinnert sich nicht mal ausreichend, um das Wenige, das er weiß, zu verstehen.”
“Die Erinnerungen sind immer noch da, in seinem Kopf. Letztendlich wird er sich erinnern, und wenn es soweit ist, dann musst du da sein. Verstehst du nicht? Wenn er sich an die Information erinnert, dann hat er keine Wahl, dann muss er handeln. Er braucht dich dann, um ihn zu beraten, und er wird deine Ressourcen brauchen, wenn er etwas Sinnvolles dagegen tun möchte.” Der Ukrainer hielt inne, bevor er hinzufügte: “Die Information in Agent Nulls Kopf könnte uns die fehlenden Stücke zur Verfügung stellen oder zumindest zu Beweisen führen. Einen Weg, dies aufzuhalten. Darum geht es doch, oder nicht?”