Sie blieb im Dunkeln auf der Couch sitzen, beobachtete die Tür und erwartete beinahe, dass ein weiterer Brief durch die Tür glitt. Zwanzig Minuten später stand sie auf, machte sich bereit für die Arbeit und löschte alle Lichter in der Wohnung.
Langsam kam eine schleichende Paranoia in ihr auf. Es war ein vertrautes Gefühl, ein Gefühl, das im Laufe der Jahre so etwas wie ein enger Freund geworden war – ein sehr enger Freund, seit diese Briefe ankamen.
Sie dachte an die Pillen und fragte sich für einen Moment, ob sie sich das nur einbildete. Alles. Inklusive der Briefe.
War irgendwas davon echt?
Sie kam nicht umhin, in ihre Vergangenheit zurück zu schweifen und sich an die Dunkelheit zu erinnern, von der sie gedacht hatte, ihr entkommen zu sein.
War sie dabei, wieder ihren Verstand zu verlieren?
Kapitel sechs
Chloe saß im Wartezimmer und betrachtete die spärliche Auswahl an Lektüre auf dem Couchtisch. Sie hatte nach dem Tod ihrer Mutter zwei verschiedene Therapeuten besucht, aber den Zweck dieser Besuche nie wirklich verstanden. Aber jetzt, im Alter von 27 Jahren, wusste sie, warum sie hier war. Sie hatte den Rat von Greene befolgt und den zuständigen FBI-Therapeuten angerufen, um mit ihm über ihre Reaktion auf den gestrigen Tatort zu sprechen. Jetzt versuchte sie, sich an die Praxen zu erinnern, die sie als Kind besucht hatte.
»Ms. Fine?« Eine Frau rief sie von der anderen Seite des Raumes auf.
Chloe war so tief in ihren eigenen Gedanken versunken gewesen, dass sie die Tür zum Wartezimmer nicht gehört hatte. Eine sympathisch aussehende Frau winkte ihr zu. Chloe stand auf und versuchte ihr Bestes, sich nicht wie ein Versager zu fühlen, als sie der Frau den Flur hinunter und zu einem großen Sprechzimmer folgte.
Sie dachte an das, was Greene ihr gestern gesagt hatte, als sie zusammen einen Kaffee getrunken hatten. Sie hatte seine Worte immer noch im Kopf, denn es war der erste richtige Ratschlag, den ihr ein erfahrener Agent während ihrer sehr jungen Karriere gegeben hatte.
»In meinen ersten Jahren bin ich mehrfach zu diesem Therapeuten gegangen. Mein vierter Tatort war ein erweiterter Selbstmord. Insgesamt vier Leichen. Eine davon war ein dreijähriges Kind. Hat mich ganz schön durcheinandergebracht. Ich kann Ihnen also aus eigenem Erleben bestätigen, dass die Therapie funktioniert. Besonders, wenn man sie in dieser Phase seiner Karriere beginnt. Ich habe Agenten gesehen, die denken, sie seien große Macker und bräuchten keine Hilfe. Werden Sie nicht einer von denen, okay.«
Also nein … einen Therapeuten zu brauchen, würde sie nicht zum Versager machen. Wenn überhaupt, dann hoffte sie, dass es sie stärker machen würde.
Sie betrat das Büro und sah einen älteren Herrn von etwa sechzig Jahren hinter einem großen Schreibtisch sitzen. Ein Fenster hinter dem Schreibtisch offenbarte eine kunstvoll geschnittene Hecke, Schmetterlinge huschten hin und her. Sein Name war Donald Skinner und er machte das hier schon seit mehr als dreißig Jahren. Sie wusste das, weil sie ihn gegoogelt hatte, bevor sie sich entschied, den Termin zu machen. Skinner war sehr etepetete; er schien sich leicht aufzublähen und füllte den Raum noch ein wenig mehr, als er zur Begrüßung auf sie zukam.
Er deutete auf einen bequem aussehenden Sessel in der Mitte des Raumes. »Bitte«, sagte er. »Machen Sie es sich bequem.«
Sie setzte sich, deutlich nervös. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich etwas zu sehr versuchte, es zu verbergen.
»Haben Sie so etwas schon mal gemacht?«, fragte Skinner.
»Als ich noch ein Kind war«, antwortete sie.
Er nickte, als er auf einem identischen Stuhl vor ihr Platz nahm. Als er saß, hievte er sein rechtes Bein über sein linkes und faltete seine Hände über seinen Knien.
»Ms. Fine, warum erzählen Sie mir nicht, warum Sie heute hier sind.«
»Soll ich ganz von vorn anfangen?«, fragte sie und meinte es als Witz.
»Im Moment konzentrieren wir uns nur auf den Tatort gestern«, antwortete Skinner.
Chloe nahm sich einen Moment Zeit zum Nachdenken und fing dann an. Sie hielt nichts zurück, auch wenn sie sich ein wenig in ihre Vergangenheit vertiefte, um auch dieses Kapitel für ihn darzustellen. Skinner hörte aufmerksam zu und überdachte das, was ihm gerade erzählt worden war.
»Sagen Sie«, sagte Skinner. »War das von den Tatorten, die Sie bisher gesehen haben, der grauenvollste?«
»Nein. Aber es war der grauenvollste, den ich mir je ansehen durfte.«
»Also sind Sie bereit zuzugeben, dass es dieses Ereignis aus Ihrer Vergangenheit war, dass Sie dazu gebracht hat, so zu reagieren, wie Sie es getan haben?«
»Ich nehme es an. Ich meine, das ist noch nie passiert. Und selbst wenn es mich beunruhigte, konnte ich dieses Gefühl stets leicht abschütteln.«
»Ich verstehe. Nun, gibt es noch andere Faktoren, die eine Rolle gespielt haben könnten? Es ist eine neue Stadt. Ein neuer Ausbilder, ein neues Haus. Es gibt eine Menge Veränderungen.«
»Meine Zwillingsschwester«, sagte Chloe. »Sie lebt hier in Pinecrest. Ich dachte mir, dass es vielleicht eine gute Idee wäre, sie nach über einem Jahr wiederzusehen … vielleicht war es das, zusätzlich zu der ähnlichen Szenerie an diesem Tatort hier.«
»Das könnte sehr wohl der Fall sein«, sagte Skinner. »Bitte verzeihen Sie mir die simple Frage, aber hat der Mord an Ihrer Mutter Sie zu ihrer Karriere beim FBI geführt?«
»Ja. Seit ich zwölf war, wusste ich, dass ich das tun wollte.«
»Und was ist mit Ihrer Schwester? Was macht sie?«
»Sie arbeitet als Barkeeperin. Ich denke, sie genießt es, weil sie nur ein paar Stunden am Tag unter Leuten sein muss und dann nach Hause gehen und bis Mittag schlafen kann.«
»Und erinnert sie sich an diesen Tag genauso wie Sie? Haben Sie darüber gesprochen?«
»Haben wir, aber sie will nicht ins Detail gehen. Wenn ich es versuche, würgt sie mich sofort ab.«
»Also gehen wir jetzt ein bisschen ins Detail«, sagte Skinner. »Es ist klar, dass Sie das irgendwie besprechen müssen. Also warum nicht mit mir … einer unparteiischen Person?«
»Nun, wie ich schon sagte, es schien ein ziemlich einfacher, aber unglücklicher Unfall gewesen zu sein.«
»Trotzdem wurde Ihr Vater deshalb verhaftet«, betonte Skinner. »Als jemand, der mit dem Fall nicht vertraut ist, tendiere ich nicht zu der Unfall-Theorie. Es macht mich neugierig, wie Sie sich da so sicher sein können. Also, lassen Sie es uns durchgehen. Was ist an diesem Tag passiert? Woran erinnern Sie sich?«
»Nun, es war ein Unfall, den mein Vater verursacht hatte. Deshalb wurde er verhaftet. Er hatte nicht einmal gelogen. Er war betrunken, Mom machte ihn wütend und er schubste sie.«
»Ich habe Ihnen die Chance gegeben, ins Detail zu gehen und das ist alles, was ich bekomme?«, fragte Skinner in einem freundlichen Ton.
»Nun, einiges davon ist verschwommen«, gab Chloe zu. »Wissen Sie, so wie man die Erinnerungen aus der Kindheit durch eine rosarote Brille sieht?«
»In der Tat. Also, … ich möchte etwas mit Ihnen versuchen. Weil wir uns zum ersten Mal treffen, werde ich Sie nicht hypnotisieren. Ich werde jedoch eine andere bewährte Therapie ausprobieren. Es ist das, was manche als Zeitlinientherapie bezeichnen. Für heute hoffe ich, dass es helfen könnte, weitere Details von diesem Tag auszugraben, die in Ihrem Gehirn vorhanden sind, aber irgendwie versteckt wurden, weil Sie Angst haben, sie zu sehen. Wenn Sie auch weiterhin zu mir kommen, wird uns diese Art der Therapie helfen, die Sorgen und Ängste zu überwinden, die in Ihnen entstehen, wenn Sie mit diesem Tag konfrontiert werden. Hört sich das wie etwas an, das Sie heute ausprobieren würden?«
»Ja«, sagte sie ohne zu zögern.