Keira sah zwischen den ihr unbekannten Gesichtern hin und her. Es fühlte sich seltsam an, dass Elliot nicht daran gedacht hatte, irgendjemanden von den Leuten, die er bereits im Büro hatte, zu befördern oder Nina das Online-Editorenteam leiten zu lassen. Es fühlte sich unfair an. Sie verstand, dass Elliot die besten und klügsten Leute haben wollte, die Geld kaufen konnte, aber sie wäre niemals so weit gekommen, hätte nicht jemals jemand ein Risiko mit ihr auf sich genommen.
Rick räusperte sich: „Sollen wir uns an die Arbeit machen? Sally, können Sie Keira bitte eine Übersicht über ihre öffentlichen Auftritte geben?“
Sally wirkte wie eine noch effizientere Version von Heather, wenn eine solche Person überhaupt existieren konnte, denn sie schien Ricks Frage geahnt zu haben und wandte ihre Aufmerksamkeit jetzt einem ordentlichen Notizblock, der vor ihr lag, zu.
„Breakfast New York, News 24, Daily Roundup, Good Morning USA, Helen & Phil am Morgen, Katie & Joe am Abend …“
Als sie Sally zuhörte, wie sie die Aufzählung herunterrasselte, wurde Keira immer verwirrter. Alle diese Talkshows und neuen Organisationen wollten, dass sie bei ihnen auftrat? Ihre Nerven lagen blank.
„Sind Sie gut mit Pressearbeit?“, fragte Rick, als Sally endlich fertig war, die Fernsehauftritte aufzulisten.
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete ihm Keira. „Ich war noch nie im Fernsehen.“
„Das macht nichts“, sagte Rick mit seinem sachlichen, geschäftlichen Tonfall. „Ich bringe es Ihnen bei. Sally, buchen Sie Keira für morgen früh bei „Helen und Phil am Morgen“ ein. Es ist eine großartige Anfängershow. Die Interviews sind kurz und ziemlich locker. Und was am wichtigsten ist, sie werden aufgezeichnet. Also eine WIN-WIN-Situation. Wir werden live gehen, wenn wir wissen, wie Sie sich dort geschlagen haben, also Sally, buchen Sie die Nachmittagstermine entsprechend.“
Sally verschwendete keine einzige Sekunde. Sie hatte sofort ihr Handy am Ohr und begann nach wenigen Momenten schnell hinein zu sprechen. Keira konnte kaum fassen, wie schnell alles auf einmal passierte. Sie sah zu Elliot hinüber, der wie eine Grinsekatze aussah und ganz offensichtlich den plötzlichen Anstieg an Tempo und Druck liebte. Anders als Keira, blühte er mit dieser Art Dingen auf. Aber Keira fühlte sich ein bisschen wie ein Spielball in einem Spiel. Sie fühlte sich immer so, wenn es um Viatorum ging, sogar schon vorher, als es nur Elliot und Nina gewesen waren, die die Entscheidungen trafen. Aber jetzt hatte sie ein ganzes Team von Leuten, die ihr Leben planten und das fühlte sich noch schlimmer an.
„Wir beginnen lieber gleich mit dem Training“, sagte Rick dann, klappte seine Papiere zu und stand auf.
„Ich muss heute um fünf Uhr los“, platzte Keira plötzlich heraus. „Ich habe vor, mit meiner Schwester einkaufen zu gehen.“
Alle hielten inne und sahen sie misstrauisch an.
„Oh, ja, natürlich“, sagte Rick und strich seine Jacke glatt.
Keira erkannte sofort, dass sie alle erwartet hatten, dass sie ihre komplette Freizeit aufgab und dass sie keinerlei Gedanken daran verschwendet hatten, was sie vielleicht wollte. Sie waren einfach alle davon ausgegangen, dass sie mitmachte, ihren Anweisungen folgte und keinerlei eigenen Input haben würde.
Rick sah Sally an. „Stellen Sie sicher, dass wir um fünf Uhr fertig sind.“
Sally nickte.
Da die Versammlung vorbei war, stand das neue Editorenteam auf, um den Konferenzraum zu verlassen. Keira wollte auch gerade gehen, als Elliot sie ansprach:
„Kann ich einen Moment deiner Zeit stehlen, Keira? Privat?“
Keira sah Rick an, der die Person zu sein schien, die hier neuerdings die Entscheidungen traf.
„Natürlich“, sagte er sogar noch steifer als vorher, als sie gesagt hatte, dass sie um fünf Uhr gehen wollte.
Alle verließen den Raum und es waren nur noch Elliot und Keira übrig.
„Was ist los?“, fragte sie ihn.
„Ich weiß, es ist alles ein bisschen viel“, begann Elliot. „Dein Artikel hat ein bisschen für Aufruhr gesorgt.“
„Unter den Mitarbeitern?“
„Oh, das ist mir egal“, sagte Elliot. „Eifersucht kann eine tolle Motivation sein. Nein, ich meine Aufruhr unter unseren Werbekunden.“
„Oh“, sagte Keira ein kleines bisschen verwirrt. „Was soll das heißen?“
„Es heißt, dass sie gewillt sind, wesentlich größere Summen zu zahlen, um in Viatorum zu erscheinen als bisher. Ich meine, es gibt einen Gebote-Krieg für Werbeplatz in unserer nächsten Ausgabe und auf unserer Webseite. Wir bekommen sehr viel Aufmerksamkeit.“
„Das ist großartig“, sagte Keira. „Was hat das mit mir zu tun?“
Elliot lachte. „Du bist nicht sonderlich geschäftstüchtig, nicht wahr, Keira?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Das ist ein Grund, warum ich Autorin geworden bin.“
„Das stimmt wohl.“ Er kicherte wieder. „Keira, was ich sagen will, ist, du bringst erhöhten Umsatz in die Firma. Du verdienst eine Belohnung.“
Es begann, zu ihr durchzusickern. „Du meinst so etwas wie einen Bonus?“
„Das ist genau, was ich meine.“ Er griff in seine Tasche und zog ein Stück Papier hervor, welches er dann über den Glastisch zu Keira schob.
Sie griff danach. Es war ein Scheck. Keira lass die Summe.
„Fünfhundert Dollar? Danke, das wird meine neuen Möbel bezahlen.“
Elliot runzelte die Stirn. „Nein, Keira. Es sind fünftausend Dollar.“
Keira verschluckte sich fast. Sie musste den Scheck ein zweites Mal ansehen. In der Tat war die Summe, die darauf stand Fünftausend, nicht Fünfhundert.
„Wow. Nun … Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Vielen Dank.“
Elliot nickte. „Wenn du weiter so machst, Keira, gibt es haufenweise mehr davon, dort wo der hier herkam.“
Triumphierend faltete Keira den Scheck und schob ihn in ihre Tasche. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, ein Lauffeuer gestartet zu haben. Obwohl der Gedanke im Fernsehen aufzutreten, Angst in ihr auslöste, schaffte es der Scheck in ihrer Tasche mit Sicherheit, sie ein kleines bisschen zu mildern.
KAPITEL SECHS
Der Rest des Tages war für Keira wie verschwommen. Sie hatte Übungen für die Interviews mit Rick und Sally (die sich mehr wie Verhöre anfühlten), lernte neue engagierte Editorenteam-Mitarbeiter kennen, deren Namen Keira in dem Moment vergaß, als sie ihr genannt wurden und stürmte von einem Meeting zum anderen. Sie hatte nicht einmal eine Mittagspause oder die Chance mit Nina zu sprechen.
Sobald es fünf Uhr war, verließ Keira das Büro und ging nach Hause. Sie konnte noch immer nicht glauben, was passierte und ihr Kopf war völlig durcheinander. Niemals in ihrem Leben hätte sie gedacht, dass ihre Schreibkarriere sie in diese Richtung führen würde. Als sie mit der U-Bahn in die Richtung ihrer neuen Wohnung fuhr, stellte sie ironisch fest, dass sie heute nicht eine einzige Zeile geschrieben hatte.
Erst als sie zurück in ihrer neuen, leeren Wohnung war, hatte Keira die Chance, wirklich durchzuatmen. Sogar die Dunkelheit, die dadurch verursacht wurde, dass sie keinerlei Lampen hatte, war irgendwie beruhigend, fast so, als würde es helfen die pochenden Kopfschmerzen, die der geschäftige Tag verursacht hatte, zu betäuben.
Sie zog ihre Schuhe aus, rieb sich die schmerzenden Fußgelenke und lehnte dann ihren Kopf gegen die Rückseite ihrer Eingangstür. Langsam schloss sie ihre Augenlider und ging in einen, von der Erschöpfung hervorgerufenen, halbwachen Zustand über.
Sie stand noch immer gegen die Eingangstür gelehnt, als die Klingel neben ihr plötzlich ertönte. Schlagartig kam sie zurück zu Bewusstsein und erinnerte sich, dass sie Pläne mit Bryn gemacht hatte. Pläne nach der Arbeit waren bisher noch nie ein Problem gewesen, aber Keiras Körper fühlte sich nach dem langen Tag schwer und müde an und sie verfluchte sich jetzt selbst, dass sie überhaupt zugesagt hatte.