Sie und Ray hatten sich alte Akten vorgenommen, auf der Suche nach anderen Fällen, die Jessicas Entführung ähnelten. Vielleicht handelte es sich um einen Täter, der nach einem langen Gefängnisaufenthalt wieder frei herumlief. Dann könnte es sich um einen Fall vor ihrer Zeit handeln, was erklären würde, dass niemand davon gehört hatte. Sie hatten beide keine große Hoffnung, etwas zu finden, aber sie wussten auch nicht, was sie sonst tun sollten.
Nach einer erfolglosen Stunde Recherche, beschlossen sie, wieder zum Haus der Raineys zurückzufahren. Es war fast zehn Uhr und sie fuhren dieselbe Strecke, wie am Morgen, als zwischen ihnen noch alles normal gewesen war. Bevor er sie um ein Date gebeten hatte. Das war zwar beiden bewusst, aber weil es jetzt Dringenderes gab, war die Angelegenheit vorerst auf Eis gelegt.
Während der Fahrt telefonierte Ray mit Detective Garrett Patterson, der von Revier aus alles für die Überwachung am Ort der Lösegeldübergabe, Chace Park, koordinierte.
Patterson war ein stiller Mann Mitte dreißig. Wie Edgerton war er ein Experte auf dem Gebiet der Technik. Doch anders als sein jüngerer Kollege, zeigte Patterson eine ausgeprägte Liebe zum Detail. Er liebte es, stundenlang minutiöse Einzelheiten wie Telefonnummern oder IP-Adressen zu analysieren und zu vergleichen. Das hatte ihm auch den Spitznamen Routine-Pat eingebracht, was ihm aber nichts ausmachte.
Patterson ging nicht gerne Risiken ein. Er war aber der richtige Mann für ein absolut lückenloses Setup von elektronischer Überwachung, das sowohl effektiv, als auch nahezu unsichtbar war.
„Alles ist vorbereitet“, verkündete Ray, als das Gespräch beendet war. „Das Team ist in Position. Manny ist unterwegs zu Raineys Chef und zusammen bringen sie das Geld zu unseren Leuten, die in einem Van am Waterside Shopping Center warten.“
„Sehr gut“, sagte Keri. „Als du am Telefon warst, ist mir etwas eingefallen. Ein Freund von damals, als ich noch auf dem Hausboot gelebt habe, hat ein kleines Segelboot im Yachthafen liegen. Er würde uns bestimmt helfen, dass wir die Übergabe vom Wasser aus beobachten können. Was hältst du davon?“
„Ich würde sagen, frag ihn. Je mehr Augen wir unbemerkt auf die Übergabe richten können, desto besser.“
Keri kontaktierte ihren Freund, einen in die Jahre gekommenen Seemann namens Butch. Eigentlich war er nicht direkt ihr Freund, eher ein Saufkumpane, der den Scotch ebenso liebte wie sie selbst. Nachdem sie Evie, ihren Mann und ihren Job verloren hatte, hatte sie ein altes Hausboot gekauft, auf dem sie mehrere Jahre gelebt hatte.
Butch war ein netter ehemaliger Marinesoldat, der sie immer „Copper“ nannte und nie Fragen über ihre Vergangenheit stellte. Lieber gab er Geschichten von seiner Zeit auf See zum Besten. Damals war er genau die richtige Gesellschaft für sie gewesen, aber seit sie vom Hausboot in ein Appartment gezogen war und ihren Alkoholkonsum beträchtlich reduziert hatte, haben sie sich kaum mehr gesehen.
Das schien er ihr jedoch nicht übel genommen zu haben, denn er antwortete sofort auf ihre SMS: „Kein Problem. Bis gleich, Copper.“
„Alles klar“, teilte sie Ray mit. Dann war sie wieder still und dachte nach. Nach einer Weile unterbrach Ray die Stille.
„Woran denkst du, Keri?“, fragte er. „Ich habe den Verdacht, dass der Fall dir keine Ruhe lässt.“
Wieder einmal war Keri erstaunt, wie gut er sie kannte.
„Die Lösegeldübergabe. Irgendetwas stört mich daran. Warum hat er – angenommen es ist ein Er – uns so früh mitgeteilt, wo er sich treffen will? Er muss doch wenigstens vermuten, dass die Raineys sich an die Polizei wenden, und dass wir genau das tun würden, was wir jetzt gerade tun: Den Park weiträumig überwachen, unsere Männer positionieren, den Zugriff planen. Warum sollte er das Risiko eingehen? Es ergibt Sinn, die Summe so bald zu nennen, schließlich muss das Geld organisiert werden. Aber wenn ich so eine Summe erpressen würde, würde ich doch erst zehn Minuten vorher anrufen und Zeit und Ort mitteilen.“
„Ein logischer Gedankengang. Das unterstützt deine Theorie, dass er es gar nicht auf das Geld abgesehen hat.“
„Ich würde es mir wirklich nicht wünschen, aber genau das ist meine Sorge“, sagte sie.
„Worum, glaubst du, geht es ihm dann?“, fragte Ray.
Genau darüber hatte Keri nachgedacht und jetzt war sie fas erleichtert, es mit Ray besprechen zu können.
„Ich glaube, dass der Täter auf Jessica fixiert ist. Ich glaube, dass er sie kennt, oder ihr zumindest begegnet ist. Vielleicht hat er sie beobachtet.“
„Das würde passen. Alles deutet darauf hin, dass er die Tat schon seit einer Weile plant.“
„Genau. Zum Beispiel, dass er diese Spezial-Sonnenbrille bei FedEx benutzt hat; dass er wusste, wo die Kameras installiert sind und dass er sie an einer Stelle abgepasst hat, an der man sie von der Schule aus nicht mehr und ihre Mutter sie noch nicht sehen konnte und niemand in der ganzen Straße Überwachungskameras im Einsatz hatte. Das alles braucht Vorbereitung und Zeit.“
„Das ergibt Sinn. Aber wer könnte es sein? Der Sicherheitsangestellte hat sämtliches Personal überprüft. Und ich habe die Lehrer noch einmal auf dem Revier ins System eingegeben. Nichts, außer vielleicht ein paar Strafzettel für Falschparken.“
„Hast du auch Hausmeister und Busfahrer gecheckt?“
„Die sind zwar nicht von der Schule angestellt, aber jeder, der mit den Kindern in Kontakt kommt, muss ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Wir können die Liste noch einmal durchgehen, aber der Sicherheitsmann hat ziemlich gründlich gearbeitet.“
„Na gut, was ist mit den Geschäften, die auf Jessicas Heimweg liegen? Oder gibt es vielleicht eine Baustelle mit Bauarbeitern in der Nähe ihres Hauses? Es muss jemand sein, der sie regelmäßig sieht, mit ihrer Alltagsroutine vertraut ist und womöglich schon auffällig geworden ist.“
„Das sind mögliche Spuren, denen wir morgen früh nachgehen können, aber ich hoffe immer noch, dass wir ihn heute Nacht schnappen.“
Sie erreichten das Haus der Raineys und sahen einen Streifenwagen direkt davor stehen, obwohl sie angeordnet hatten, dass er in einiger Entfernung geparkt wird, für den Fall dass der Entführer hier vorbeikam. Sie stiegen aus und klopften an die Tür. Ein Officer öffnete ihnen und sie traten ein.
„Wie geht es den Raineys?“, fragte Ray leise.
„Die Mutter ist die meiste Zeit mit dem Jungen oben und versucht ihn abzulenken“, berichtete der Officer.
„Den Jungen und sich selbst“, ergänzte Keri leise.
„Der Vater war die meiste Zeit still. Er sieht sich schon seit Stunden den Park auf Google Maps an. Er hat uns ein paar Fragen zur Polizeiüberwachung gestellt, die wir größtenteils nicht beantworten können.“
„Okay, danke“, sagte Ray. „Vielleicht können wir weiterhelfen.“
Tim Rainey saß, wie der Polizist beschrieben hatte, mit seinem Laptop am Küchentisch und sah sich den Burton Chace Park von oben an.
„Mr. Rainey“, sagte Keri, „man hat uns gesagt, dass Sie ein paar Fragen haben.“
Rainey blickte kurz auf, schien sie aber kaum wahrzunehmen. Dann nickte er.
„Ziemlich viele sogar.“
„Schießen Sie los“, sagte Ray.
„Im Brief stand keine Polizei. Wie wollen Sie es schaffen, nicht bemerkt zu werden?“
„Wir haben überall im Park Überwachungskameras versteckt“, erklärte Ray. „Die Kollegen werden also alles von einem Van aus beobachten. Außerdem gibt es im Chace Park einige Obdachlose. Wir haben einen Officer entsprechend getarnt. Sie ist seit Stunden dort, damit die anderen keinen Verdacht schöpfen. Wir haben ein paar Männer im Windjammers Yacht Club positioniert, sie werden von einem Zimmer im zweiten Stock aus alles beobachten. Einer davon ist ein Scharfschütze.“