Dann schüttete sie sich selbst auch einen Tee ein und stellte beide Tassen in die Mikrowelle.
Ich darf nicht durcheinander kommen, ermahnte sie sich selbst. Die gelbe Tasse für Cody, die blaue für mich.
Während die Mikrowelle summte, setzte sie sich wieder neben Cody und sah ihn wortlos an.
Er hat ein nettes Gesicht, dachte sie. Aber er hatte ihr von seinem eigenen Leben erzählt und sie wusste, dass er traurig war. Er war schon lange traurig. Er war während seiner Highschool-Zeit ein dekorierter Athlet gewesen. Aber er hatte seine Knie während eines Football Spiels verletzt, was seine Hoffnungen auf eine Profikarriere vernichtet hatte. Die gleichen Verletzungen hatten schließlich dazu geführt, dass er neue Kniegelenke benötigte.
Sein Leben war seither von Tragödie gezeichnet. Seine erste Frau war bei einem Autounfall gestorben und seine zweite Frau hatte ihn für einen anderen Mann verlassen. Er hatte zwei erwachsene Kinder, aber sie sprachen nicht mehr mit ihm. Vor einigen Jahren hatte er außerdem einen Schlaganfall gehabt.
Sie bewunderte ihn für die Tatsache, dass er nicht im Mindesten verbittert schien. Tatsächlich war er voller Hoffnung und Optimismus für die Zukunft.
Sie dachte, dass er süß, aber naiv war.
Sie wusste, dass sein Leben sich nicht zum Besseren wenden würde.
Dafür war es zu spät.
Das Piepen der Mikrowelle riss sie aus den Gedanken. Cody sah sie aus freundlichen, erwartungsvollen Augen an.
Sie tätschelte seine Hand, stand auf und ging zur Mikrowelle. Sie nahm die beiden Tassen heraus, die jetzt heiß waren.
Sie dachte noch einmal:
Gelb für Cody, blau für mich.
Es war wichtig, sie nicht zu verwechseln.
Sie nippten beide schweigend an ihrem Tee. Für Hallie waren diese Momente Zeiten der stillen Kameradschaft. Es stimmte sie ein wenig traurig, dass es sie nicht mehr geben würde. In wenigen Tagen würde dieser Patient sie nicht mehr brauchen.
Bald würde Cody einschlafen. Sie hatte ein Pulver mit ausreichend Schlafmitteln in seinen Tee getan, um dafür zu sorgen.
Hallie stand auf und suchte ihre Sachen zusammen.
Und dann begann sie leise zu singen, ein Lied, das sie kannte, solange sie sich erinnern konnte.
Weit weg von zu Haus'
So weit weg von zu Haus'–
Dieses kleine Baby ist weit weg von zu Haus'.
Du sehnst dich danach
Jeden Tag
Zu traurig zu lachen, zu traurig zu spielen.
Kein Grund zu weinen
Träum' lang und tief.
Übergib dich dem Lied des Schlafs.
Kein Seufzen mehr,
Schließ' nur deine Augen
Und du wirst im Traum nach Hause gehen.
Seine Augen schlossen sich, sie strich ihm liebevoll das Haar aus dem Gesicht.
Dann, mit einem sanften Kuss auf die Stirn, stand sie auf und ging.
KAPITEL EINS
FBI Agentin Riley Paige ging besorgt durch die Gangway am Phoenix International Airport. Sie hatte während dem Flug von Washington aus kaum stillsitzen können. Jilly, ein Mädchen, das Riley besonders am Herzen lag, war verschwunden. Sie war entschlossen, dem Mädchen zu helfen und dachte sogar darüber nach, sie zu adoptieren.
Als Riley durch den Ausgang des Gates eilte, sah sie auf und war geschockt, eben jenes Mädchen vor sich stehen zu sehen, FBI Agent Garrett Holbrook von der Außenstelle in Phoenix gleich neben ihr.
Die dreizehnjährige Jilly Scarlatti stand neben Garret und wartete ganz offensichtlich auf sie.
Riley war verwirrt. Garrett hatte sie angerufen und ihr erzählt, dass Jilly weggelaufen war und nicht zu finden sei.
Doch noch bevor Riley eine Frage stellen konnte, warf Jilly sich ihr weinend in die Arme.
"Oh Riley, es tut mir so leid. Es tut mir so so leid. Ich mache das nie wieder."
Riley versuchte Jilly zu trösten und sah Garrett fragend an. Garretts Schwester, Bonnie Flaxman, hatte versucht, Jilly als Pflegekind aufzunehmen. Aber Jilly hatte rebelliert und war weggelaufen.
Garrett lächelte leicht – ein ungewöhnlicher Anblick des sonst so ernsten Mannes.
"Sie hat Bonnie angerufen, kurz nachdem Sie Fredericksburg verlassen hatten", sagte er. "Sie hat gesagt, dass sie sich nur noch einmal verabschieden wollte, endgültig. Aber dann hat Bonnie ihr erzählt, dass Sie auf dem Weg hierher sind, um sie aufzunehmen. Sie hat sich so gefreut, dass sie uns gesagt hat, wo wir sie abholen können."
Er sah Riley an.
"Dass Sie den ganzen Weg hierher geflogen sind, hat sie gerettet", schloss er.
Riley stand mit der weinenden Jilly im Arm da und kam sich seltsam unbeholfen vor.
Jilly flüsterte etwas, das Riley nicht hören konnte
"Was?", fragte Riley.
Jilly zog ihr Gesicht ein wenig zurück und sah Riley in die Augen, ihre eigenen, ernsten braunen Augen mit Tränen gefüllt.
"Mom?", sagte sie mit erstickter, schüchterner Stimme. "Kann ich dich Mom nennen?"
Riley zog sie noch näher an sich, überwältigt von der Flut von Gefühlen.
"Natürlich", sagte Riley.
Dann wandte sie sich an Garrett. "Vielen Dank für alles, was Sie getan haben."
"Ich bin froh, dass ich helfen konnte, zumindest ein wenig", erwiderte er. "Brauchen Sie einen Platz zum Übernachten, während Sie hier sind?"
"Nein. Jetzt, wo sie gefunden ist, ist das nicht mehr nötig. Wir nehmen den nächsten Flug zurück."
Garrett schüttelte ihr die Hand. "Ich wünsche Ihnen alles Gute."
Dann ging er.
Riley sah auf den Teenager hinunter, der noch immer an ihr hing. Sie war gleichzeitig erleichtert, dass sie sie gefunden hatte, und besorgt, weil sie nicht wusste, was die Zukunft ihnen bringen würde.
"Lass uns etwas essen gehen", sagte sie zu Jilly.
*
Es schneite leicht, während sie vom Reagan Washington National Airport nach Hause fuhren. Jilly starrte schweigend aus dem Fenster. Ihr Schweigen war ein großer Umschwung nach dem mehr als vierstündigen Flug von Phoenix. Jilly hatte nicht aufhören können zu reden. Sie war noch nie in einem Flugzeug gewesen und alles weckte ihre Neugier.
Warum ist sie jetzt so ruhig? fragte Riley sich.
Dann wurde ihr bewusst, dass Schnee ein ungewöhnlicher Anblick sein musste, für ein Mädchen, das sein ganzes Leben in Arizona verbracht hatte.
"Hast du schon einmal Schnee gesehen?", fragte Riley.
"Nur im Fernsehen."
"Gefällt es dir?", sagte Riley.
Jilly antwortete nicht, was in Riley wieder ein unbehagliches Gefühl auslöste. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie Jilly gesehen hatte. Das Mädchen war vor einem gewalttätigen Vater davongelaufen. Aus schierer Verzweiflung hatte sie sich entschieden, Prostituierte zu werden. Sie war zu einem Rastplatz gegangen, der bekannt dafür war, dass man dort Prostituierte aufgabeln konnte – "Truckerhuren" wurden sie genannt.
Riley war dort gewesen, um eine Serie von Morden an Prostituierten aufzuklären. Sie hatte Jilly zufällig in einer Fahrerkabine gefunden, wo sie darauf gewartet hatte, dass der Fahrer zurückkommt, um sich an ihn zu verkaufen.
Riley hatte Jilly zu einer Notunterkunft gebracht und war mit ihr in Kontakt geblieben. Garretts Schwester hatte Jilly als Pflegekind aufgenommen, aber schließlich war Jilly wieder weggelaufen.
Da hatte Riley beschlossen, Jilly selber aufzunehmen.
Aber jetzt fing sie an sich zu fragen, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Sie musste sich schon um ihre eigene fünfzehn Jahre alte Tochter, April, kümmern. Die konnte alleine schon eine Handvoll sein. Sie hatten zusammen einige traumatische Erfahrungen durchgestanden, seit Rileys Ehe zerbrochen war.
Und was wusste sie wirklich über Jilly? Hatte Riley eine Ahnung, wie tief die seelischen Verletzungen des Mädchens waren? War sie überhaupt dazu in der Lage, mit den Herausforderungen fertig zu werden, die Jilly möglicherweise mit sich brachte? Und auch wenn April zugestimmt hatte, Jilly zu sich nach Hause zu holen, würden die beiden Mädchen zurechtkommen?