Mit noch lauterem Geschrei folgten ihnen Kendrick und seine Männer und jagten sie durch ganz Lucia hindurch aus den Toren hinaus.
Wer vom Bataillon des Empire noch übrig war – und es waren noch immer hunderte von Männern – ritt in einem wenig organisierten Chaos um sein Leben in Richtung Horizont.
Lauter Jubel brandete von den befreiten Gefangenen in Lucia auf. Kendricks Männer zerschnitten ihre Fesseln und befreiten sie und die Männer zögerten nicht, den gefallenen feindlichen Kriegern die Waffen abzunehmen, auf ihre Pferde zu springen und sich Kendricks Männern anzuschließen.
Kendricks Armee wuchs zu fast doppelter Größe an und die Männer jagten den feindlichen Kriegern über die Hügel hinterher. O’Connor und die anderen Bogenschützen trafen hier und da den ein oder anderen auf der Flucht.
Die Jagd ging weiter und Kendrick fragte sich, wohin sie flohen, bis er uns seinen Männer auf die Spitze eines besonders hohen Hügels kamen und von dort die größte der Städte des MacGil Reiches östlich von Silesia sahen – Vinesia – eingebettet zwischen zwei Berge, schmiegte sich die Stadt in ein malerisches Tal. Es war eine bedeutende Stadt, wesentlich grösser als Lucia mit dicken Steinmauer und verstärkten Eisentoren. Hierhin flüchteten also die verbliebenen Männer des Empire Bataillons – denn die Stadt wurde von zehntausenden von Andronicus Männern beschützt.
Kendrick stand mit seinen Männern auf dem Hügel und nahm die Situation in sich auf. Vinesia war eine große Stadt und sie waren weit in der Unterzahl. Er wusste, dass es töricht gewesen wäre, es zu versuchen, dass es am sichersten war, nach Silesia zurückzukehren und dankbar für den heutigen Sieg zu sein.
Doch Kendrick war nicht in der Stimmung für die sichere Wahl – genauso wenig wie seine Männer. Sie wollten Blut. Sie wollten Rache. Und an einem Tag wie heute war es nicht mehr wichtig, ob sie in der Unterzahl waren oder nicht. Es war an der Zeit, dem Empire zu zeigen, woraus die MacGils geschmiedet waren.
„ANGRIFF!“ schrie Kendrick.
Lautes Geschrei brandete auf und tausende von Männern stürmten voran und stürzten sich tollkühn den Hügel hinunter auf die Stadt zu, bereit alles für Ehre und Tapferkeit zu riskieren und ihr Leben dafür zu geben.
KAPITEL VIER
Gareth hustete und keuchte während er über die öde Landschaft stolperte, seine Lippen waren aufgesprungen vom Durst und seine Augen lagen tief in den Höhlen mit dunklen Ringen darunter. Die letzten Tage waren furchtbar gewesen, und er hatte mehr als einmal geglaubt, sterben zu müssen.
Gareth war haarscharf Andronicus Männern in Silesia entkommen, indem er sich in einem Geheimgang versteckt gehalten und abgewartet hatte. Er hatte wie eine Ratte zusammengerollt in der Dunkelheit auf seine Gelegenheit zur Flucht gewartet. Er hatte das Gefühl gehabt, Tage in dem Loch verbracht zu haben. Er hatte alles mitangesehen, hatte mit Unglauben gesehen, wie Thor auf dem Rücken dieses Drachen angekommen war und all die Männer des Empire getötet hatte. In der allgemeinen Verwirrung und dem Chaos das daraufhin ausgebrochen war, hatte Gareth seine Gelegenheit zur Flucht genutzt. Er war aus einem der Nebentore von Silesia geschlichen als niemand hingesehen hatte und hatte die Straße gen Süden entlang des Canyons genommen, wobei er sich meistens im Dickicht bewegte, um nicht entdeckt zu werden. Doch das war ziemlich egal – die Straße war ohnehin leer. Alle waren unterwegs gen Osten um in der großen Schlacht um den Ring zu kämpfen. Während Gareth seines Weges zog bemerkte er die verkohlten Körper von Andronicus Männern, die die Straße säumten und wusste, dass die Schlacht hier im Süden schon geschlagen worden war. Gareth ging weiter in Richtung Süden. Sein Instinkt trieb ihn zurück nach King’s Court – oder was davon noch übrig war. Er wusste, dass Andronicus Männer die Stadt verwüstet hatte, dass sie höchstwahrscheinlich in Trümmern lag, doch er wollte nach King’s Court zurück. An den Ort, den alle anderen aufgegeben hatten. Den Ort, an dem er, Gareth, einst geherrscht hatte.
Nachdem er tagelang gewandert war, schwach und verwirrt vor Hunger, kam Gareth endlich an den Rand des Waldes und sah King’s Court in der Ferne. Da lag es – und die Mauern standen noch immer, zumindest zu Teil, auch wenn sie verkohlt waren und verfielen. Überall lagen die Leichen von Andronicus Männern herum, ein Beweis, dass Thor hier gewesen war. Davon abgesehen lag es verlassen, und außer dem Pfeifen des Windes war nichts zu hören.
Das war Gareth gerade recht. Er wollte nicht in die Stadt gehen. Er wollte zu einem kleinen, versteckten Gebäude außerhalb der Stadt, einem Ort, an den er als Kind immer gerne gekommen war. Ein rundes Gebäude aus Marmor, das sich nur wenige Meter über dem Boden erhob mit kunstvoll verzierten Statuen auf dem Dach. Es war die Gruft der MacGils. Der Ort an dem sein Vater begraben worden war – und dessen Vater vor ihm.
Gareth war sich sicher, dass die Gruft nicht zerstört worden war. Wer würde sich schon die Mühe machen, ein Grab anzugreifen? Es war der eine Ort, an dem niemand nach ihm suchen würde und an dem er Unterschlupf finden konnte. Ein Ort, an dem er sich verstecken konnte und in Ruhe gelassen wurde. Ein Ort, an dem er mit seinen Vorfahren alleine sein konnte. So sehr Gareth seinen Vater auch hasste so sehr wollte er ihm in diesen Tagen nahe sein.
Gareth eilte über das offene Feld; ein kalter Windstoß ließ ihn erschaudern und er zog den verschlissenen Mantel enger um seine Schulter. Er hörte den schrillen Ruf eines Wintervogels und sah die große, furchteinflößende schwarze Kreatur, die über ihm kreiste und mit jedem Ruf erwartete, dass er zusammenbrach und ihr nächstes Mahl wurde. Gareth konnte es ihr nicht verübeln. Er hatte kaum mehr Kraft und war sich sicher, dass er eine erstklassige Mahlzeit für den Vogel darstellen würde.
Endlich erreichte Gareth das Gebäude, griff den schweren eisernen Türgriff mit beiden Händen und drückte ihn mit beiden Händen nach unten. Die Welt drehte sich um ihn und er war vor Erschöpfung schon fast im Delirium. Die Türe öffnete sich einen Spalt weit, und er musste all seine Kraft aufzubringen, sie weiter aufzuziehen.
Gareth eilte in die Finsternis und zog die schwere Tür hinter sich zu. Der Klang hallte im alten in dem alten Gemäuer lang nach.
Er griff in der Finsternis nach einer Fackel an der Wand – er wusste genau, wo sie befestigt war, schlug einen Feuerstein und entzündete sie. Sie gab gerade genug Licht, damit er die Stufen hinabsteigen konnte, immer tiefer in Finsternis hinab. Es wurde immer kälter und zugiger je tiefer er kam, der kalte Winterwind fand seinen Weg durch die schmalsten Ritzen. Er hatte das Gefühl, dass seine Vorfahren ihn anheulten, ihn tadelten.
„LASST MICH IN RUHE!“ schrie er zurück.
Seine Stimme hallte von den Wänden der Gruft wieder.
„IHR WERDET EUREN PREIS SCHON FRÜH GENUG BEKOMMEN!“
Doch der Wind blies weiter.
Gareth war wütend und stieg tiefer hinab, bis er endlich die große marmorne Kammer mit ihrer drei Meter hohen Decke erreichte, in der all seine Vorfahren in marmornen Sarkophagen lagen. Gareth durchschritt feierlich den Raum, auf die gegenüberliegende Seite zu, wo sein Vater lag. Seine Schritte hallten vom marmornen Boden und den Wänden wider.
Der alte Gareth hätte den Sarkophag seines Vaters zertrümmert. Doch plötzlich begann er, so etwas wie Zuneigung ihm gegenüber zu spüren. Er konnte es kaum verstehen. Vielleicht ließ die Wirkung des Opiums nach; oder vielleicht war es auch, weil er wusste, dass er selbst bald tot sein würde.