Jetzt hatte sie alle Informationen, was ja der Grund ihres Anrufs gewesen war. Lyoness rief noch euphorisch: Prima, Liebling. Bis morgen dann. Küsschen!, bevor sie das Gespräch abbrach.
Amethyst starrte verblüfft ihr Handy an; ihre Mutter hatte einfach aufgelegt. Nach ein paar Minuten platzierte sie es wieder in den Beutel, drehte sich um und wanderte ziellos in Richtung Pension. Es sah so aus, als müsste sie die morgige Ankunft ihrer Mutter vorbereiten. Sollte sie Cooper warnen? Es wäre ein Grund für ein Gespräch mit ihm. Unsicher, ob das eine gute Idee war, entschloss sie sich dagegen. Andererseits sollte sie die Pension informieren, dass ein zweiter Gast in ihrem Zimmer übernachten würde. Auf keinen Fall würde Mutter ein eigenes Zimmer buchen. Wahrscheinlich war sie kurz davor, völlig abgebrannt zu sein und sie hatte keinerlei persönliche Rücklagen. Das war einer der Gründe, warum sie sich nach dem Ende einer Beziehung bei Amethyst meldete. Die Liebhaber ihrer Mutter bezahlten stets ihre Ausgaben, und wenn eine Beziehung zu Ende war, saß sie auf dem Trockenen.
Sie blickte auf und merkte, dass sie wieder vor der Pension stand. Amethyst ging hinein, seufzte und fand sich mit der Situation ab. Im Stillen bedankte sie sich beim Schicksal, dass sie eine geräumige Suite mit Ausziehsofa hatte. Als sie in der Pension stand merkte sie, dass Cooper nicht mehr am Empfang war. Eine junge Frau mit kurzen schwarzen Haaren, violetten Augen und einem sonnigen Lächeln empfing sie. Hallo, ich bin Olivia. Wie kann ich Ihnen helfen?
Amethyst brauchte eine Minute, um ihre Enttäuschung zu überwinden, dass nicht Cooper da war, um ihr zu helfen. Es war an sich egal, aber es half nichts, sie fand ihn anziehend. Sie freute sich auf ein weiteres Gespräch mit ihm.
Oh, ich dachte, Cooper hätte Dienst.
Olivia nickte und lächelte weiter. Oh, er hat oder besser, er hatte. Es war irgendetwas Dringendes mit seinem Vater, deswegen hat er mich angerufen, ob ich übernehme. Sind Sie ein Gast?
Oh, tut mir leid, ja. Ich bin Amethyst Keane in Zimmer dreizehn. Ich wollte ihm sagen, dass meine Mutter, Lyoness Keane, morgen kommt. Wenn ich bei ihrer Ankunft weg sein sollte, könnten Sie dann bitte dafür sorgen, dass sie einen Schlüssel zu meinem Zimmer bekommt?
Klar, kein Problem, ich klebe mir eine Notiz an unseren Computer. Brauchen Sie sonst noch etwas? Olivia notierte sich die Information auf einen gelben Zettel und klebte ihn an den Bildschirm.
Sie wollte wirklich wissen, was mit Cooper und seinem Vater los war, also platzte sie heraus: Ist alles in Ordnung mit Coopers Vater? Tut mir leid, ich weiß, das ist wohl eine zu persönliche Frage. Sie sollte nicht in Coopers Angelegenheiten herumschnüffeln. Ich bin halt von Natur aus neugierig, manchmal bricht das durch.
Olivia machte eine wegwerfende Handbewegung. Ach, Herrn Marchant geht es bestimmt gut. Er hat sich vor einem Jahr zur Ruhe gesetzt, als Coopers Mutter gestorben ist. Er lebt draußen bei Ghost Peak alleine in einem Haus. Ich denke mal, er sitzt auf seinem Dach fest und der Wind hat die Leiter umgeweht oder sowas ähnliches. Gott sei Dank war das Handy in seiner Tasche und er hat angerufen, damit Cooper ihm zu Hilfe kommt.
Ghost Peak? Der Platz klang interessant, daher fragte Amethyst: Das ist ja ein faszinierender Name. Warum Ghost Peak?
Es gibt ein Gerücht, dass dort Easton Hill Marianne Trenton um ihre Hand gebeten hat. Außer in der Pension, so die Sage, spukt er jedes Jahr dort herum und zwar an dem Tag, als er ihr den Antrag machte.
Amethyst spürte, wie sie in Aufregung geriet. Sie hatte ein paar Gespenstergeschichten über das Dorf gehört. Das war einer der Gründe, warum sie es für ihren nächsten Reisebeitrag ausgesucht hatte. Sie hätte Olivia gerne genauer ausgefragt, aber sie hielt sich zurück. Toll, wirklich? Glauben Sie, dass Herr Marchant einverstanden ist, wenn ich hingehe?
Olivia nickte zustimmend. Ich kann mir nicht denken, warum nicht. Er mag Gesellschaft, vor allem seit er die meiste Zeit alleine ist. Außer Cooper wohnen da nur er und sein Golden Retriever Molly. Wahrscheinlich ist er begeistert, wenn Sie ihn besuchen.
Amethyst konnte ihre Aufregung kaum verbergen und ihre Fragen überstürzten sich. Wunderbar. Glauben Sie, heute Nachmittag würde es passen? Soll ich ihn vorher anrufen? Könnten Sie mir eine Wegbeschreibung zu Ghost Peak geben?
Olivia brach in lautes Gelächter aus und verschränkte die Arme vor der Brust. Nein, gehen Sie ruhig. Wahrscheinlich ist Cooper sowieso noch da. Einen Moment, ich gebe Ihnen eine Wegbeschreibung. Es ist eine längere Wanderung, aber die Aussicht ist atemberaubend und das allein ist es schon wert.
Olivia vermerkte genauere Einzelheiten auf der Beschreibung. Der vorherige Spaziergang war nicht so verlaufen, wie Amethyst das geplant hatte, doch manchmal war es besser, keine Pläne zu machen. Mit Olivias Hilfe hatte sie einen Anhaltspunkt für ihre Story gefunden. Vielleicht könnte sie den Aufenthalt sogar abkürzen und wieder heimfahren. Mutter würde ihr sowieso nachfahren
Sie würde sich dem Problem Mutter nach ihrer Ankunft widmen. Sie musste ja nicht jetzt schon in Stress verfallen. Es gab Wichtigeres zu untersuchen und auszukundschaften. Bald würde sie einen Vorgeschmack auf die Sage über Easton Hill erhalten. Sie konnte es kaum erwarten, den Ort zu sehen, wo er angeblich seiner Frau Marianne einen Heiratsantrag gemacht hatte.
Olivia nahm den Zettel und gab ihn Amethyst. Bitte schön. Es war nett, Sie kennenzulernen, Amethyst. Viel Glück.
Amethyst nickte Olivia zu und sagte: Danke für all die Hilfe. Einen schönen Nachmittag noch.
Dann drehte sie sich um und verließ die Pension. Es gab nichts, was ihren Enthusiasmus so zum Überschäumen brachte wie der erste Hinweis auf eine Story. In flottem Tempo wanderte sie den Pfad entlang, den Olivia auf der Beschreibung skizziert hatte. Bald schon würde sie alle Details zu dem Dorfgespenst zusammengetragen haben und auch die bewegte Vergangenheit kennenlernen, die für die Sage verantwortlich war.
KAPITEL VIER
Cooper hatte gerade die Leiter wieder verstaut, als er Amethyst entdeckte, die sich dem Haus näherte. Er hielt kurz inne und bewunderte, wie schön sie aussah, wenn der Wind in ihren Haaren spielte. Ihr Versuch, es zusammenzubinden, wurde durch den windigen Tag zunichtegemacht. Feine Strähnen wehten ihr ums Gesicht, als sie den langen Pfad entlangwanderte, der zur Veranda des Hauses führte. Was hatte sie zu seinem Haus geführt? Vielleicht war sie das Mädchen, das er eines Tages zu finden hoffte. Eines wusste er mit Sicherheit: Er war mehr als bereit, es herauszufinden. Cooper war innerlich davon überzeugt, dass Amethyst eine besondere Frau war.
Sie kam bei den Stufen an und klopfte an die Haustür. Sein Vater, Roman Marchant, öffnete und begrüßte sie. Vater ging es endlich wieder gut und vielleicht konnte er eine gewisse Zufriedenheit wiederfinden. Coopers Mutter hatte lange mit Leukämie gekämpft und den Kampf vor einem Jahr verloren. Der Verlust war für seinen Vater verheerend gewesen. Sein ehemals schwarzes Haar war jetzt von grauen Strähnen durchzogen und in seinen blauen Augen lag eine Traurigkeit, die vorher nicht dagewesen war. Es hatte ihn sehr viel Kraft gekostet, ohne seine geliebte Frau weiterzumachen. Es half, dass Vaters bester Freund Nicholas Drake den Sommer über im Dorf sein würde. Nach einem Arbeitsunfall hatte Nicholas einen Ort gesucht, wo er wieder zu Kräften kommen konnte und North Point war dafür so gut geeignet wie jeder andere Platz. Bald würde er ankommen.