Sie schäumte vor Wut. »Und ich dachte, du wolltest nett sein, weil ich in der Prüfungswoche so gestresst war!«
Chuy versuchte noch einmal, ihren Nacken zu berühren und sie schlug ihm auf die Finger. »Hör auf damit! Ich bin kein Flaschengeist.«
»Und wenn ich dich in meinen Selbstverteidigungskurs lasse?«
Chuy bot ehrenamtlich Selbstverteidigungskurse im Begegnungszentrum des Stadtteils an. Sie hatte ihn seit Wochen darum gebeten, sie beitreten zu lassen. Wenn man in Houston lebte, vor allem in diesem Stadtteil, war Selbstverteidigung etwas, das jede Frau beherrschen sollte.
Naomi seufzte. »Okay.« Sie hob ihr Haar an und zog den Kragen ihrer Bluse nach unten. »Mach schnell, ich wills hinter mich bringen.«
Chuy rieb kurz daran. »Na siehst du, das war doch gar nicht so schlimm, oder?«
»Igitt, hau ab. Und nimm deine Freunde gleich mit.« Sie schubste ihn scherzhaft und ging davon, um nach ihrem Vater zu suchen.
3
Naomi warf den letzten Müllsack in die Tonne und setzte sich ihrem Vater gegenüber auf die Vordertreppe. Er spielte mit einer roten Marke, seinem Einen-Monat-nüchtern-Abzeichen und ließ es zwischen seinen Fingern kreisen. Sie lehnte sich gegen das Geländer und sah hinauf zu den Sternen am wolkenlosen Himmel. Sie saßen in einvernehmlichem Schweigen, keiner von ihnen wollte die außergewöhnlich friedliche Stille der Nacht stören. Normal waren das ferne Krachen von Schüssen und das Heulen von Sirenen. Obwohl Naomi nur wenige Meilen entfernt wohnte, machte sie sich Sorgen, weil ihre Großmutter und Chuy in einer so gefährlichen Gegend lebten.
»Hat es dir gefallen, Mijita?«, fragte Javier.
»Es war großartig, Dad.« Naomi warf einen Seitenblick auf die braune Flasche, die er hielt.
»Das ist Limo«, sagte er als Antwort auf ihren Gesichtsausdruck. »Ich weiß, dass du Angst hast, ich könnte wieder zu trinken anfangen. Du hast mein Wort darauf, dass ich das nicht tun werde.«
»Bist noch in Kontakt mit deinem Sponsor?«
»Jeden Tag.«
»Gut.«
Ihr Vater blieb einen Moment lang still. Er verlagerte das Gewicht, bevor er sprach. »Es gibt etwas, das ich dir geben möchte.«
»Dad «
»Bevor du nein sagst, lass es mich erklären.« Er klopfte auf die freie Stelle neben ihm. »Komm her.«
»Aber «
»Bitte, das hier ist wichtig.«
Sie rutschte über die Stufe heran und Unbehagen überkam sie, als sie darauf wartete, dass ihr Vater zu sprechen anfing. Das letzte Mal, als er so ein Gesicht gemacht hatte wie jetzt, war, als er ihr hatte sagen müssen, dass ihre Mutter gestorben war.
Er griff in seine Tasche und zog ein filigranes Silberkettchen hervor. Als er es im Verandalicht baumeln ließ, strahlten blaue und weiße Lichtblitze von den winzigen Diamanten ab, die das Kreuz säumten. Die Halskette ihrer Mutter. Tränen verschleierten ihren Blick, als sie sich erinnerte, wie sie auf dem Krankenhausbett gesessen hatte, ihre Mutter blass vor Schmerzen, mit dunklen Ringen unter den Augen und hohlen Wangen. Immer, wenn sie das Kettchen mit dem Finger nachgezogen hatte, hatte Frieden in ihren Augen geleuchtet. Ihr Glaube war so stark gewesen; es war etwas, von dem Naomi wünschte, sie hätte es auch.
Sie ließ ihre Finger über den Anhänger gleiten und fühlte die kalte Berührung des Silbers. Seitdem ihre Mutter gestorben war, hatte ihr Vater das Kettchen in einem kleinen Samtbeutelchen aufbewahrt, das er immer bei sich trug. »Das kann ich nicht annehmen.«
»Es ist deins«, sagte er. Seine Stimme klang laut in der stillen Nacht, obwohl er flüsterte.
Naomi ließ ihre Hand herabfallen. »Sie gehört dir.«
Er hob ihre Hand auf und drehte sie um. Er ließ die Kette in ihre Handfläche fallen und starrte einen Moment lang darauf. »Nein, sie gehört dir.«
»Dad, ich «
»Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?«
»Schon, aber «
»Ich fühle mich besser, wenn ich weiß, dass du sie hast. Du bist erwachsen und hast ein ganzes Leben vor dir. Jetzt musst du losziehen. Jemand Besonderen treffen. Wann bist du das letzte Mal auf einem Date gewesen?«
Naomi schnitt eine Grimasse. Es war etwas daran gewesen, ihren Vater die Liebe seines Lebens verlieren zu sehen, das das Daten in neues Licht gerückt hatte. Sie dachte an all die Jungen, mit denen sie ausgegangen war. Sie konnte sich an niemanden erinnern, für den sie so tief empfunden hätte wie ihre Eltern für einander.
»Ich bin nicht am Daten interessiert, zumindest jetzt nicht.«
Javier schüttelte den Kopf. »Schotte dich nicht vor der Liebe ab, Mijita. Wenn die Zeit reif ist, wird der Richtige dich finden. Alles, was du brauchst, ist Vertrauen.« Er nahm ihr das Kettchen aus der Hand und befestigte es um ihren Hals.
Naomi sah ihm aufmerksam ins Gesicht und fragte sich, weshalb er sich so merkwürdig verhielt. Er schien ihr noch mehr sagen zu wollen und sie wartete stumm ab in der Hoffnung, dass er fortfahren würde. Stattdessen seufzte er und stand auf.
»Wohin gehst du?«, fragte sie, überrascht, dass er jetzt los wollte.
»Zur Arbeit.« Er nahm den Autoschlüssel aus der Tasche. »Ich putze heute Nacht Büros.«
»Du hast zwei Teilzeitjobs?«
»Ich muss viele Rechnungen nachzahlen. Sieh mich nicht so an.« Er tippte ihr auf die gerunzelte Stirn. »Du kriegst noch Falten, bevor du dreißig bist.«
»Jetzt, wo es dir besser geht, könntest du vielleicht an einen IT-Job kommen.« Sie wandte den Blick ab, wohlwissend, dass selbst sein Abschluss in Computer Science die mehrfachen Verwarnungen seiner früheren Arbeitgeber nicht auslöschen konnte. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass in einer Großstadt wie Houston jemand ihm eine neue Chance geben würde und dass er einen Job fand, bevor die Welt der Technologie sich bereits viel weiter entwickelt hatte.
»Vielleicht.« Javier drehte den Schlüssel im Motor und die Lichter, die einen Kreis um den Mustang herum formten, erwachten blinkend zum Leben.
»Du und Chuy, ihr habt das wirklich gut hingekriegt.« Naomi trat zurück, um eine bessere Sicht zu haben. »Er ist wirklich cool. Ihr zwei solltet zusammen eine Firma aufmachen.«
»Das ist keine schlechte Idee. Obwohl, wie ich Chuy kenne, würde er die ganzen Gewinne verfressen.« Er legte den Rückwärtsgang ein. »Bis morgen. Vergiss nicht, deinen Helm aufzusetzen.«
»Mach ich doch immer.« Sie winkte.
Er war schon halb die Straße hinuntergefahren, als sie aus heiterem Himmel heraus das Bedürfnis hatte, ihm nachzulaufen. Sie schüttelte den Kopf schalt sich selbst für diesen Unsinn.
Ich sehe ihn morgen. Sie startete das Motorrad und fuhr in die entgegengesetzte Richtung davon.
Jane Sutherland lehnte sich an das Waschbecken und streifte ihre Jimmy Choos ab. Nach fünf Stunden voller Gespräche und Kontakteknüpfen mit den Reichen Houstons und den führenden Größen von Texas Oil schrien ihre Füße vor Schmerz. Sie wackelte mit den Zehen, während der Boden ihre gequälten Füße kühlte. Viel besser, dachte sie. Wenn sie doch bloß barfuß zu formellen Veranstaltungen gehen könnte, das würde sie um einiges erfreulicher machen.
Sie sah in den Spiegel und trug eine neue Schicht rubinroten Lippenstift auf. Ihr platinumblondes Haar, das zu einem Dutt aufgesteckt war, betonte ihre großen saphirfarbenen Augen. Siebenundvierzig Jahre, in denen sie die Sonne vermieden hatte sie bekam leicht einen Sonnenbrand hatten ihr Gesicht blass und faltenlos gelassen.
Es kopfte an der Tür. »Senatorin Sutherland? Mr. Prescott hat einen Gast, den er Ihnen gern vorstellen würde.«