Der Kommodore hatte die Tempest schon vor zwei Wochen oder früher aus Madras erwartet. Depeschen, die er bereits durch eine Kurierbrigg erhalten hatte, hatten ihn nicht daran zweifeln lassen, daß die Tempest pünktlich eintreffen würde. Als sich ihr Einlaufen verzögerte, war er nicht beunruhigt, wie er es bei einem anderen Schiff gewesen wäre. Die Tempest stand unter dem Befehl von Kapitän Richard Bolitho, nicht gerade einem persönlichen Freund, aber doch einem Landsmann aus Cornwall, und das war unter den üblen Verhältnissen dieser Strafkolonie beinahe genausoviel wert.
Er hob das Glas wieder ans Auge. Jetzt konnte er die Ga-lionsfigur der Fregatte erkennen, eine Frauengestalt mit wilden Augen, wehendem Haar und vorspringenden Brüsten, die ein großes Muschelhorn an die Lippen hielt. Haar und Körper waren blank vergoldet, nur die Augen leuchteten in einem intensiven Blau und blickten weit in die Ferne, als folgten sie dem Weg ihrer Kinder, der Stürme. Die Vergoldungen der Galionsfigur und der Verzierungen rings um den Kajütaufbau mußten Bolitho ein kleines Vermögen gekostet haben. Aber in diesen Gewässern gab es wenig, wofür man sonst sein Geld verwenden konnte. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als er seine Marinesoldaten zur Schanzpforte stampfen hörte. Schon ihre Stiefeltritte schienen ihm schwer genug, die alte Hebrus zu zertrampeln. Ein Leutnant blickte respektvoll durch den Türvorhang. Der Kommodore nickte knapp. Er wollte seinen Untergebenen nicht erkennen lassen, daß er sich so sehr für das andere Schiff interessierte.»Ja, ja, ich weiß. Ich komme hinauf.»
Noch als er nach seinem Hut griff, hallte der erste Salutschuß über den Hafen und scheuchte die dösenden Vögel vom Wasser auf, die kreischend durcheinanderflatterten, wie um den Neuankömmling dafür zu beschimpfen, daß er ihre Ruhe störte. Auf dem Achterdeck war es trotz des ausgespannten Sonnensegels heiß wie in einem Backofen. Der Flaggkapitän legte die Hand an seinen Hut und versuchte, die Stimmung seines Vorgesetzten zu ergründen. Er meldete: «Tempest, sechsunddreißig Geschütze, Kommandant Fregattenkapitän Richard Bolitho. «Geschütz um Geschütz feuerte weiter Salut; der dunkle Qualm sank auf das Wasser hinab, als ob er eine schwere Masse wäre.
Der Kommodore legte die Hände auf dem Rücken zusammen.
«Signalisieren Sie, sobald sie Anker geworfen hat: Kommandant zu mir an Bord!»
Der Flaggkapitän unterdrückte ein Lächeln. Die Laune war also gut. Er hatte schon erlebt, daß er mitten in die letzten Manöver anderer Schiffe ein Dutzend Signale hatte geben müssen; als ob der Kommodore Vergnügen an der Verwirrung fände, die er damit stiftete.
Dies muß ein Sonderfall sein, dachte er.
Mit Marssegeln, die noch unter dem für einen Kommodore vorgeschriebenen Salut von elf Schüssen vibrierten, setzte Seiner Britannischen Majestät Fregatte Tempest ihre langsame Fahrt durch den Hafen fort. Die Wasseroberfläche gleißte so grell, daß es schmerzhaft war, über Takelage oder Gangway hinauszusehen.
Richard Bolitho stand an der Reling des Achterdecks, die Hände lose auf dem Rücken zusammengelegt, und versuchte, trotz der üblichen Spannung beim Anlaufen eines unbekannten Ankergrunds gelassen zu erscheinen. Wie still es war. Er musterte sein Schiff und fragte sich, wie wohl der Kommodore es beurteilen würde. Er hatte das Kommando über die Tempest vor zwei Jahren in Bombay übernommen, als sie von der Marine in Dienst gestellt worden war.
Beim Gedanken an dieses Datum lächelte er, und sein ernstes Gesicht wirkte dadurch jugendlicher. Wie heute, war auch damals sein Geburtstag gewesen. Denn an diesem 7. Oktober 1789, der ihm ein weiteres Einlaufen unter vielen, längst vergessenen brachte, wurde Richard Bolitho aus Falmouth im County Cornwall dreiunddreißig Jahre alt. Schnell warf er einen Blick zur anderen Seite hinüber, wo Thomas Herrick, der Erste Offizier der Tempest und sein bester Freund, mit einer Hand die Augen beschattend, die Stellung der Rahen und die perspektivisch verkürzten, halbnackten Seeleute im Topp kontrollierte. Er fragte sich, ob Herrick an seinen Geburtstag denken würde. Hoffentlich nicht. In diesen Gewässern, wo Woche auf Woche feindseliges Klima und hartnäckige Windstillen einander folgten, war man sich der Vergänglichkeit der Zeit nur zu bewußt.
«Noch fünf Minuten, Sir.«»Gut, Mr. Lakey.»
Bolitho brauchte sich nicht umzusehen. In den zwei Jahren seines Kommandos auf der Tempest hatte er die Stimmen und das Temperament aller länger unter ihm Dienenden kennengelernt. Tobias Lakey war der hagere, schweigsame Steuermann, geboren und aufgewachsen auf den rauhen Scilly-Inseln, die seiner eigenen Heimat Cornwall vorgelagert waren. Im Alter von acht Jahren war Lakey zur See gegangen; jetzt war er etwa vierzig. Nach all diesen Jahren auf Schiffen jedes Typs, vom Fischerboot bis zum Linienschiff, hatte die See ihm nur noch wenig Neues beizubringen.
Bolitho versuchte, sich an die anderen Gesichter zu erinnern, die in den zwei Jahren von Bord verschwunden waren: durch Tod oder Verletzung, Krankheit oder Desertation; die Männer waren gekommen und gegangen wie die Gezeiten. Die jetzige Besatzung der Tempest glich der anderer Schiffe, die nie einen britischen Hafen angelaufen hatten, und war so vielfältig wie die Küsten, die sie auf ihren Reisen sahen. Manche darunter waren Männer, die bei der Marine wirklich ihren Beruf gesucht hatten. Meist hatten sie auf Schiffen in England angeheuert und waren dann auf ein beliebiges anderes versetzt worden. Besser als die meisten anderen kannten sie die Verhältnisse in England, wo die sechs Jahre seit dem Krieg in manchem schlimmer gewesen waren als das Leben an Bord. Unter einem fairen Kommandanten und mit einer großen Portion Glück konnten sie ihren Weg machen. In ihrer Heimat dagegen, für die viele so lange und hart gekämpft hatten, gab es kaum Arbeit, und die Häfen waren nur zu oft von. Kriegsversehrten und menschlichem Strandgut überfüllt.