Immer noch hatte er Herricks besorgtes Gesicht vor Augen. Sie waren fast gleich an Jahren, und doch kam ihm Herrick sehr gealtert vor; sein braunes Haar war hier und da grau bereift. Bolitho fiel es schwer, etwas anderes in ihm zu sehen als seinen besten Freund. Aber er mußte in ihm den Kommandanten sehen, den Flaggkapitän eines neuen Geschwaders, das noch nie als selbständiger Verband zusammengewirkt hatte. Eine schwere Aufgabe für jeden, auch für einen Thomas Herrick Bolitho versuchte, die plötzlich aufsteigenden Zweifel zurückzudrängen. Herrick war von bescheidener
Herkunft, Sohn eines Schreibers; doch gerade seine unbedingte Ehrenhaftigkeit, die ihn zu einem Mann machte, auf den unter allen Umständen Verlaß war, konnte ihm hinderlich sein, wenn es galt, Entscheidungen von größerer Tragweite zu treffen. Herrick war ein Mann, der jeden rechtmäßigen Befehl ohne Fragen und ohne Rücksicht auf persönliches Risiko ausführen würde. Aber war er der Mann, in einer Seeschlacht den Oberbefehl zu übernehmen, wenn
der Kommodore ausfiel?
Merkwürdig: die vorigen beiden Ranghöchsten auf der Lysander waren bei St. Vincent ausgefallen. Der Kommodore, George Twy-ford, war bei der ersten Breitseite ums Leben gekommen; und der Flaggkapitän, John Dyke, durchlitt zur Zeit Höllenqualen im Marinehospital Haslar, war so schwer verstümmelt, daß er nicht einmal selbständig essen konnte. Das Schiff hatte beide überlebt und noch viele andere. Bolitho blickte sich in der sauberen Kajüte mit den schön geschnitzten Möbeln um. Beinahe hatte er das Gefühl, sie beobachteten ihn lauernd.
Mit einem ärgerlichen Seufzer begann er, die Depesche zu lesen.
Grüßend nickte Bolitho den fünf Offizieren zu, die den Tisch in der Kajüte umstanden.»Bitte nehmen Sie Platz, Gentlemen.»
Während sie ihre Stühle heranrückten, beobachtete er ihre Gesichter freudige, angeregte, neugierige. Es war schließlich ein besonderer Moment; vermutlich empfanden sie ebenso, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Farquhar hatte sich nicht verändert, war geschmeidig, elegant und so selbstbewußt geblieben, wie er schon als Midshipman gewesen war. Jetzt war er zweiunddreißig und planmäßiger Fregattenkapitän; vor Ehrgeiz leuchteten seine Augen fast so wie die blanken goldenen Epauletten.
Francis Inch konnte kaum das Strahlen auf seinem diensteifrigen Pferdegesicht verbergen. Die Schaluppe war unentbehrlich für die Rekognoszierung und als Vorhut des Geschwaders, und als ihr Kommandant war Inch ein hochwichtiger Mann.
Raymond Javal, der Kommandant der Fregatte, sah eher einem Franzosen ähnlich als einem britischen Marineoffizier. Er war tiefbrünett und hatte starkes, fettiges Haar; sein Gesicht war so schmal, daß es von den tiefliegenden Augen ganz und gar beherrscht wurde.
Mit einem kurzen Lächeln begrüßte Bolitho auch Kapitän George Probyn von der Nicator. Mit ihm war er auf der alten Trojan gefahren, als die amerikanische Revolution ausgebrochen war und die ganze Welt verändert hatte. Aber Probyn sah ganz anders aus als damals: wie ein riesiger, schäbiger Kneipenwirt hockte er gebeugt am Tisch. Nur ein Jahr älter als Bolitho, hatte er die Trojan auf die gleiche Weise verlassen, nämlich als Prisenkommandant auf einem gekaperten Blockadebrecher, den er zum nächsten alliierten Hafen segeln sollte. Im Gegensatz zu Bolitho, der auf diese Art zu seinem ersten selbständigen Kommando gekommen war, hatte Probyn das Pech gehabt, von einem amerikanischen Freibeuter geschnappt zu werden; er hatte den größten Teil des Krieges in Gefangenschaft verbracht, bis er schließlich gegen einen französischen Offizier ausgetauscht worden war. Diese in der wichtigsten Phase seiner Laufbahn verlorenen Jahre waren Probyn offenbar teuer zu stehen gekommen. Er wirkte unsicher und hatte eine merkwürdige Art, schnelle, verstohlene Blicke auf seine Kameraden zu werfen und dann wieder auf seine verschlungenen Hände hinunterzusehen.
«Alle vollzählig, Sir«, meldete Herrick
Bolitho blickte auf den Tisch nieder. Im Geiste las er wieder seine Segelorder: Sie werden hiermit bevollmächtigt und beauftragt, mit Ihrem Geschwader und allen Ihnen zur Ve rfügung stehenden Kräften Anwesenheit und Absichten größerer feindlicher Einheiten zu erkunden
Ruhig und eindringlich begann er zu sprechen:»Wie Ihnen bekannt sein wird, hat der Feind eine Menge Zeit daran gewandt, Schwachstellen in unserer Verteidigung aufzuspüren. Abgesehen von unseren Siegen zur See, haben wir wenig erreicht, um das Vordringen und den wachsenden Einfluß Frankreichs zu stoppen. Meiner Ansicht nach ist Bonaparte niemals von seinem ursprünglichen Plan abgewichen, der immer noch und notwendigerweise darin besteht, Indien zu erreichen und unsere Handelswege zu blockieren. Dem französischen Admiral Suffren wäre das im letzten Kriege beinahe geglückt. «Bolitho fing Herricks Blick auf; zweifellos dachte er daran, wie sie zusammen in Ostindien gekämpft und selbst erlebt hatten, wie erpicht der Feind darauf war, die Gebiete wieder zu erobern, die er in jenem unstabilen Frieden verloren hatte.»Bonaparte muß wissen, daß jede Verzögerung seiner Vorbereitungen uns nur Zeit gibt, unsere Kräfte zu verstärken«, fuhr Bolitho fort.