Herrick rieb sich das Kinn.»Eine lange Reise.«»Aye, Thomas. Hundert Tage. In der Zeit will ich es schaffen.»
Er lächelte, und sofort war aller Ernst aus seinen Zügen gewischt.»Mit Ihrer Hilfe natürlich.»
Herrick nickte.»Darf ich fragen, welche Aufgaben uns in Madras erwarten?»
Bolitho blickte auf die zusammengefaltete Segelorder nieder.»Ich weiß noch sehr wenig. Aber ich habe eine ganze Menge zwischen den Zeilen gelesen.»
Er schritt hin und her; sein Schatten glitt schwankend über die Wände der Kajüte.
«Nach dem Krieg mußten allerlei Konzessionen gemacht werden, Thomas, um das Gleichgewicht der Kräfte wiederherzustellen. Wir hatten den Holländern Trincomali auf Ceylon weggenommen, den am vorteilhaftesten gelegenen, besten Seehafen im Indischen Ozean. Suffren, der französische Admiral, hat uns Trincomali wieder entrissen und bei Kriegsende den Holländern zurückgegeben. Und wir haben Frankreich viele Westindische Inseln zurückgegeben, ebenso die französischen Stützpunkte in Indien. Und Spanien hat Menorca zurückbekommen. «Er hob die Schultern.»Auf beiden Seiten sind viele Menschen anscheinend umsonst gestorben.»
«Aber wo bleibt England, Sir?«fragte Herrick verwirrt.»Haben wir denn gar nichts herausgeholt?»
Bolitho lächelte.»Darum geht es jetzt. Daher diese außerordentliche Geheimhaltung und unsere vage Beorderung nach Teneriffa.»
Er hielt inne und blickte auf den untersetzten Leutnant herab.»Ohne Trincomali sind wir in derselben Lage wie vor dem Krieg: wir haben auf Ceylon keinen guten Hafen für unsere Schiffe, keine Basis, von der aus wir dieses weite Gebiet kontrollieren könnten, kein Sprungbrett für die Ausdehnung des Handels mit Indien.»
«Ich dachte, die East India Company hat alles, was sie braucht«, brummte Herrick.
Bolitho mußte wieder an die beiden Kaufleute in der Postkutsche denken. Und an andere, die er in London kennengelernt hatte.»Verschiedene Leute, die bei uns etwas zu sagen haben, halten Macht für die Grundlage internationaler Überlegenheit. Und hohe Handelsprofite für ein Mittel, um solche Macht zu erlangen. «Er warf einen kurzen Blick auf den Zwölfpfünder an der Kajütenwand, dessen kraftvolle Umrisse dezent von einer Chintzdecke verhüllt waren.»Und Krieg für den Weg zu diesen dreien.»
Herrick biß sich auf die Lippe.»Und wir sollen sozusagen sondieren?»
«Vielleicht sehe ich das auch ganz falsch, Thomas. Aber Sie müssen wissen, wie ich denke nur für den Fall, daß etwas entscheidend schiefgeht. «Er dachte wieder an das, was Winslade in der Admiralität zu ihm gesagt hatte:»Ihr Auftrag müßte eigentlich von einem ganzen Geschwader ausgeführt werden «Winslade brauchte jemanden,
sah er aus, als sei ihm die Uniform wie buntes Wachs um die Glieder gegossen. Er sprach in kurzen, abgehackten Sätzen, und nur von der Jagd oder vom Exerzieren. Seine Seesoldaten waren sein Lebensinhalt, doch hörte man nur selten ein Kommando von ihm. Sein bulliger Sergeant namens Coaker hatte die Abteilung fest im Griff; und Bellairs begnügte sich mit einem gelegentlichen:»Weitermachen, Sa'rnt Coaker!«oder:»Sa'rnt Coaker, der Kerl steht ja die wie'n Sack Lumpen!«Er gehörte zu den wenigen Menschen in Bolithos Bekanntschaft, die total betrunken sein konnten, ohne daß sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild auch nur das geringste änderte.
Triphook, der Zahlmeister, schien sehr tüchtig zu sein, wenn auch recht geizig mit den Rationen. Er hatte viel Mühe auf die Überprüfung verwandt, ob die unteren Lagen der vom Proviantamt gelieferten Fässer nicht etwa verfaultes Fleisch enthielten, was man sonst erst viel später auf hoher See entdeckt hätte. Solche Sorgfalt war bei einem Zahlmeister an sich schon selten.
Aber der Schiffsarzt! Der war jetzt zwei Wochen an Bord. Hätte Bolitho ihn austauschen können, so hätte er es bestimmt getan. Whitmarsh war ein Trinker der schlimmsten Sorte. Nüchtern war er ruhig und sogar liebenswürdig. Aber betrunken, und das kam oft vor, schien er in Fetzen zu gehen wie ein mürbes Segel in einer Fallbö. Whitmarsh mußte lernen, sich vernünftig zu benehmen, dachte Bolitho mit zusammengebissenen Zähnen.
Oben hörte man Fußgetrappel, und Herrick meinte:»Heute wird sich der eine oder andere im Mannschaftslogis überlegen, ob er recht daran getan hat, anzumustern. «Er lachte.»Na, jetzt ist es auf alle Fälle zu spät.»
Bolitho starrte achteraus auf das schwarze, wirbelnde Wasser und lauschte auf den Ebbstrom, der das Ruder knarren ließ.»Aye. Es ist ein weiter Schritt vom Land auf die See. Viel weiter, als es sich die meisten Leute vorstellen. «Er setzte sein
Weinglas auf das Regal zurück.»Ich glaube, ich gehe jetzt schlafen. Morgen ist ein langer Tag.»
Herrick nickte.»Dann also gute Nacht, Sir. «Er wußte aber genau, daß Bolitho noch stundenlang aufbleiben würde, rastlos planend, nach den letzten Fehlern suchend, nach Irrtümern in Wach- und Dienstplänen. Und Bolitho ahnte, daß Herrick das wußte.