Dienstkleidung für Männer, die noch eigene Fetzen auf dem Leib trugen, das war zu viel für seine Wertbegriffe. Doch er würde es schon noch lernen, wenn Bolitho das Schiff erst einmal zum Leben erweckt hatte. Rufe kamen von Land her, und Midshipman Penn piepste ängstlich:»Pardon, Sir, aber ich fürchte, der Schiffsarzt ist in Schwierigkeiten.»
Herrick runzelte die Stirn, Der Schiffsarzt hieß Charles Whitmarsh: ein Mann von Kultur, aber mit Problemen. Nach Herricks Erfahrungen waren die meisten Schiffsärzte bloße Schlächter. Wer sonst würde zur See gehen und sich nach einer Seeschlacht mit blutigen, zerfetzten, schreienden, sterbenden Männern befassen wollen? In Friedenszeiten mochte das anders sein. Aber Whitmarsh war leider ein Säufer. Dort unten in dem dümpelnden Dingi bemühten sich der Bootsmannsmaat und zwei Matrosen, dem Arzt einen doppelten Palstek umzulegen, damit er besser an Bord kam. Er war ein großer, kräftiger Mann, fast so groß wie Soames, und sein Gesicht glühte in dem grauen Licht so rot wie die Uniform eines Seesoldaten.
«Lassen Sie ein Frachtnetz abfieren, Mr. Penn«, befahl Herrick unwillig.»Nicht sehr gentlemanlike, aber das Gestrampel da unten ist auch nicht gerade vornehm.»
Schließlich war Whitmarsh auf dem Geschützdeck gelandet, mit wirren Haaren und dem strahlenden Grinsen des Betrunkenen. Einer seiner Sanitätsgasten und zwei Seesoldaten schälten ihn aus dem Netz und schafften ihn unter Deck. Jetzt würde er in seinem kleinen Lazarett ein paar Stunden schlafen und dann wieder von vorn mit Trinken anfangen.
«Ist er krank, Sir?«fragte Penn ängstlich.
Herrick sah den Knaben ernsthaft an.»Ein bißchen blau, mein Junge. Aber einen Arm oder ein Bein abschneiden, das könnte er wohl noch. «Er tippte Penn auf die Schulter.»Gehen Sie unter Deck. Ihre Ablösung muß gleich kommen.»
Er blickte hinter dem Davoneilenden her und mußte wieder grinsen. Nur schwer konnte er sich vorstellen, daß er selbst einmal wie Penn gewesen war: unsicher, ängstlich und voll knabenhafter Illusionen, die eine nach der anderen durch das, was er sah und hörte, verloren gingen.
Da rief ein Seesoldat:»Wachtboot legt im Bootshafen ab,
Sir!»
«Schön«, nickte Herrick. Das hieß: Order für die Undine. Seine Blicke schweiften über das Schiff, zwischen die hohen, in der Dünung dippenden Masten, über das straffe Gewirr der Takelage und die sauber gerefften Segel bis zum Bugspriet, unter dem die Gallionsfigur, eine vollbusige Seejungfrau, blicklos in die Ferne starrte. Es hieß auch, daß Bolitho zurückkommen würde. Und zwar heute.
Mehr brauchte Thomas Herrick nicht zu wissen.
II Anker auf!
Er war müde und steif von der langen Fahrt in der Postkutsche, bei der er sich zu allem anderen noch über seine beiden Reisegefährten geärgert hatte: Kaufleute aus der Londoner City. Bei jedem Pferdewechsel oder auch sonst in einem der zahlreichen Wirtshäuser an der Chaussee nach Portsmouth hatten sie sich eine Erfrischung genehmigt und waren dabei immer lauter und vergnügter geworden. Sie wollten mit einem Postschiff nach Frankreich, um dort neue Geschäftsverbindungen anzuknüpfen und, wenn sie Glück hatten, ihre Handelsbeziehungen ein gutes Stück zu erweitern. Für Bolitho war das immer noch schwer zu verstehen. Noch vor einem Jahr war der Ärmelkanal die einzige Barriere zwischen seinem Land und dem Feind gewesen: der letzte Festungsgraben, wie eine Zeitung es ausgedrückt hatte. Männer vom Schlage seiner beiden Mitpassagiere schienen das inzwischen vergessen zu haben. Für sie war der Kanal nur noch ein ärgerliches Hindernis, das ihre Geschäftsreisen unbequemer und zeitraubender machte.
Er kroch tiefer in seinen Bootsmantel. Plötzlich konnte er es kaum noch erwarten, an Bord zu kommen. Der Mantel war neu und stammte von einem guten Londoner Schneider. Der Freund von Konteradmiral Winslade war mit ihm in der Werkstatt gewesen und hatte dabei so viel Takt entwickelt, daß sich Bolitho wenigstens nicht ganz ahnungslos vorkam. Er war so unsicher in diesen Dingen. Und doch mußte er lächeln, als er an die Zeit in London dachte. Er würde sich nie an London gewöhnen können. Es war zu groß, zu hektisch. Niemand hatte Zeit und Luft zum Atmen. Kein Wunder, daß die Leute in den großen Häusern um den St. James Square alle paar Stunden ihre Dienstboten hinausschicken mußten, um frisches Stroh auf die Straße zu breiten. Das Knarren und Rumpeln der Wagen konnte
von der Innenseite nicht, um festzustellen, ob die Werft wirklich einwandfrei gearbeitet hatte. Kupfer schützte den Rumpf vor Algenbewuchs, der die Geschwindigkeit erheblich mindern konnte. Aber hinter dem Kupfer mochte der schlimmste Feind jedes Kapitäns lauern: die Fäule, die einen erstklassigen Schiffsrumpf in eine tödliche Falle für den Unvorsichtigen verwandeln konnte. Vor zwei Jahren war in Portsmouth das
Flaggschiff des Admirals Kempenfeit, die Royal George, gekentert und gesunken, was mehrere hundert Menschen das Leben gekostet hatte. Es hieß, das Unterwasserschiff sei angefault gewesen und glatt herausgefallen. Wenn das einem stolzen Flaggschiff vor Anker passieren konnte, dann war bei einer Fregatte noch viel Schlimmeres zu befürchten.