«Wieviel Mann sind auf diesem Schiff?«fragte der Spanier.
Bolitho dachte an das Gesindel, das in Spithead an Bord gekommen war: zerlumptes Volk aus den Gefängnishulken, flüchtige Verbrecher aus London; der Geschützführer mit nur einer Hand. Alle diese Männer.»Es läßt sich etwas aus ihnen machen, Senor«, antwortete er.»Alles in allem zweihundert, einschließlich der Marineinfanterie. «Er lächelte, um die Spannung etwas aufzulockern.»Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich auch Ihre Überlebenden anmustern, ja?»
Puigserver schien das nicht zu hören. Aber sein Händedruck war wie Eisen.»Zweihundert, eh?«Er nickte grimmig.»Genügt.»
Bolitho sah ihn scharf an.»Wir machen also weiter, Senor?»
«Sie sind jetzt mein Capitan. Was sagen Sie dazu?»
Bolitho lächelte.»Das wissen Sie schon, Senor.»
Puigserver seufzte erleichtert auf.»Wenn Sie diesen Narren Raymond zu mir schicken und Ihren Schreiber, dann werde ich mein Siegel unter diese neue Aktion setzen. «Seine Stimme wurde härter.»Heute habe ich gesehen und gehört, wie viele
Männer in Angst und Schrecken umkamen. Wer auch hinter dieser Gemeinheit steht, ich werde mit ihm abrechnen. Und dann, Capitan, wird es eine Rechnung sein, an die unsere Feinde lange denken werden.»
Es klopfte Midshipman Armitage erschien im Türrahmen, von der Deckenlampe draußen auf dem Gang wie ein Schattenriß angeleuchtet.
«Empfehlung von Mr. Herrick, Sir. Auffrischender Wind aus Nordest. «Wie ein Schüler, der dem Lehrer seine Lektion aufgesagt hat, stand er da.
«Ich komme gleich an Deck. «Bolitho mußte plötzlich an Mudge denken, der besseren Wind prophezeit hatte. Er würde bei Herrick an Deck sein und auf Befehle für die Nacht warten. Das und noch mehr hörte er aus Armitages Meldung heraus. Was jetzt beschlossen wurde, entschied das Schicksal des Schiffes und jedes Mannes an Bord. Bolitho blickte Puigserver noch einmal an.»Es steht also fest, Senor!».
«Ja, Capitan.« Der Spanier wurde immer schläfriger.»Sie können mich jetzt ruhig allein lassen. Aber schicken Sie mir Raymond, ehe ich schnarche wie ein betrunkener Ziegenhirt.»
Bolitho trat hinter dem Midshipman aus der Kajüte und sah, wie ungeschickt der Wachtposten an der Tür seine Muskete hielt. Wahrscheinlich hatte er gelauscht; bis zur Nacht würde das ganze Schiff Bescheid wissen: das war eine Reise, die nicht nur die Macht der britischen Flotte demonstrieren sollte, sondern eine, bei der mit wirklicher Gefahr zu rechnen war. Er lächelte grimmig, als er die Treppe zum Achterdeck hinaufstieg. Vielleicht würden sie in nächster Zeit nicht mehr so über das häufige Exerzieren an den Geschützen schimpfen.
Herrick und Mudge standen beim Ruder; der Steuermann hielt eine Blendlaterne über seine Schiefertafel, auf welcher er Berechnungen in überraschend sauberer Schrift gemacht hatte.
Bolitho ging auf die Luvseite, blickte prüfend zu den vollen Segeln auf und horchte auf die Bugwelle, die weiß schäumend wie das Wasser in einem Mühlenschacht am Rumpf entlangströmte. Dann trat er zu den beiden wartenden Männern und sagte:»Sie können die Segel zur Nacht kürzen, Mr. Herrick. Morgen mustern Sie von der Nervion -Mannschaft alle an, die Ihnen tauglich scheinen. «Er hielt inne, denn aus dem Orlopdeck drang wieder ein wilder Schrei an sein Ohr.»Viele werden es nicht sein, fürchte ich.»
Herrick fragte gespannt:»Wir gehen also nicht auf Gegenkurs, Sir?«Mudge rief dazwischen:»Und das ist auch gut so, wenn ich das sagen darf,
müssen; seit dem Tage, an dem das spanische Schiff gesunken war, herrschte an Bord eine so gespannte und drückende Atmosphäre, daß es kaum zu ertragen war.
Am schlimmsten waren die letzten Tage gewesen. Vorher hatte die Mannschaft bei der Äquatortaufe und den damit verbundenen althergebrachten Bräuchen einigen Spaß gehabt. Bolitho hatte eine Extraration Rum ausgeben lassen, und eine Zeitlang hatte sich die Abwechslung ganz segensreich ausgewirkt. Die Neuen hatten die Äquatorüberquerung als eine Prüfung angesehen, die sie nun bestanden hatten. Die Befahrenen kamen sich noch befahrener vor und erzählten allerlei wahre oder erlogene Geschichten von früheren Reisen in diesen Gewässern. Ein Mann hatte sich als Fiedler entpuppt und nach kurzem, verlegenem Vorspiel mit seiner Musik ein bißchen Fröhlichkeit in das tägliche Einerlei gebracht.
Aber dann starben dicht nacheinander die letzten schwerverletzten Spanier, und das drückte stark auf die allgemeine Stimmung. Whitmarsh hatte getan, was er konnte, hatte mehrere Amputationen ausgeführt, und bei den Schmerzensschreien der Unglücklichen schwand Bolithos kurze Befriedigung darüber, daß es ihm gelungen war, seine Mannschaft zusammenzuschweißen. Der Todeskampf des letzten Spaniers hatte tagelang gedauert. Beinahe einen Monat hatte er sich quälen müssen, schluchzend und stöhnend, oder auch friedlich schlafend, während Whitmarsh stundenlang bei ihm wachte. Es war, ais wolle der Arzt seine Kräfte erproben, als erwarte er, daß wieder etwas in ihm zerbräche. Die letzten Opfer unter seinen Patienten waren jene gewesen, die von den Haien besonders schlimm zerfleischt worden waren oder so schwere Brüche und Quetschungen erlitten hatten, daß auch eine Amputation sie nicht mehr retten konnte. Wundbrand hatte bei ihnen eingesetzt, und durch das ganze Schiff zog ein so furchtbarer Gestank, daß selbst die Mitleidigsten für einen baldigen Tod der Ärmsten beteten.