Jemand stand neben ihm: der Schiffsarzt, der zum Ufer blickte. Jedesmal, wenn sich Bolitho bisher mit dem rundlichen Doktor unterhalten hatte, war es ein Gewinn für ihn gewesen. Bulkley war ein wunderliches Mitglied ihrer Gemeinschaft. Schiffsärzte waren soweit
Bolitho bisher erfahren hatte geringe Vertreter ihres Berufsstandes, meist nichts anderes als Schlächter; ihre blutige Kunst mit Messer und Säge wurde von den Seeleuten mehr gefürchtet als eine Breitseite des Gegners.
Aber Henry Bulkley war eine Ausnahme. Er hatte in London ein angenehmes Leben geführt, hatte eine Praxis in einer vornehmen Gegend besessen und Patienten, die reich, aber auch anspruchsvoll waren.
Bulkley hatte es Bolitho in der Stille einer Nachtwache erklärt:»Ich begann, die Tyrannei der Kranken zu hassen, die Selbstsucht von Leuten, die nur zufrieden sind, wenn man sie verwöhnt. Ich bin zur See gegangen, um dem zu entkommen. Hier habe ich eine Aufgabe und brauche nicht Zeit an Leute zu vergeuden, die zu reich sind, um sich die Mühe zu machen, ihren Körper kennenzulernen. Hier bin ich genauso ein Spezialist wie Mr. Vallance, unser Oberstückmeister, oder wie der Zimmermeister, und leiste den gleichen Dienst wie sie. Oder wie der arme Mr. Codd, der Zahl- und Proviantmeister, der sich über jede zurückgelegte Meile grämt und errechnet, wieviel Käse, Salzfleisch, Kerzen und Leinwand sie ihn gekostet hat. «Er hatte zufrieden gelächelt.»Und
hörte den Kommandanten etwas sagen; Sekunden später stieg die rote Nationalflagge zur Mastspitze empor und stand so steif im Wind wie eine bemalte Metallplatte.
Wieder Timbrells Stimme:»Anker ist kurzstag, Sir!«Er beugte sich über die Backsreling vorn und beobachtete aufmerksam die Strömung unter dem Bugspriet.
«Am Ankerspill Achtung!»
Bolitho warf noch einen schnellen Blick nach achtern: auf den
Kommandostand, auf Gulliver mit seinen drei Rudergängern am großen Doppelrad; auf Colpoys mit seinen Seesoldaten an den Kreuzbrassen, den Fähnrich der Wache und Henderson, den Signalfähnrich, der immer noch zur wild killenden Flagge emporschaute, weil er fürchtete, daß sie sich in ihrer Leine vertörnen könnte. Im Augenblick war ihm das wichtiger als sein Leben.
An der Querreling stand Palliser mit einem Steuermannsmaaten und etwas abseits der Kommandant auf fest verwurzelten, stämmigen Beinen, die Hände unter den Rockschößen, mit einem Blick seinen gesamten Befehlsbereich umfassend. Zu seinem Erstaunen sah Bo-litho, daß Dumaresq unterm Rock eine scharlachrote Weste trug.
«Vorsegel los!»
Die Männer auf der Back vorn erwachten zum Leben. Ein verträumter Neuling wäre fast von ihnen niedergetrampelt worden, als die großen Leinwandflächen der vorderen Stagsegel in plötzlicher Freiheit flatterten und schlugen.
Palliser warf dem Kommandanten einen Blick zu und erntete ein fast unmerkliches Nicken. Darauf hob der Erste Offizier das Megaphon und rief:»Enter auf! Marssegel los!»
Die Webeleinen über beiden Laufbrücken hingen plötzlich voller Matrosen, die wie Affen zu ihren Rahen aufenterten, während die fixesten Burschen noch höher hinaufkletterten, um etwas später, wenn das Schiff in Fahrt war, dort ihren Teil der Arbeit zu leisten.
Bolitho verbarg seine Besorgnis unter einem Lächeln, als Jury hinter den sicher zupackenden und wieselschnellen Matrosen aufenterte.
Neben ihm krächzte Merrett:»Mir wird übel, Sir.»
Slade, der älteste Steuermannsmaat, der gerade vorbeieilte, knurrte:»Dann schluck's runter! Wenn du hier spuckst, Bürschchen, lege ich dich übers Kanonenrohr und verpasse dir sechs Schläge, damit du's lernst!«Er eilte weiter, gab Befehle, schubste Männer auf ihre Station und hatte den kleinen Kadetten schon wieder vergessen.
Merrett schluchzte:»Mir ist wirklich furchtbar schlecht!»
Bolitho sagte:»Gehen Sie nach Lee hinüber.»
Er schaute nach Pallisers Megaphon aus und dann hinauf zu seinen Männern auf den Rahen und in die wogende Leinwand des Großmarssegels, in die der Wind schon hier und da hineingefaßt hatte und die sich nun vollends zu befreien suchte.
«An die Brassen! Alle Mann Achtung!«»Anker ist los, Sir!»
Wie ein befreites Tier schüttelte sich die Destiny und trieb zunächst achteraus, bis die wild schlagenden Vorsegel dichtgeholt, die Marsegel angebraßt waren und sich mit Wind füllten. Da gehorchte das Schiff endlich dem hart gelegten Ruder und nahm Fahrt voraus auf.
Bolitho erschrak, als ein Mann auf der Großrah ausrutschte, aber seine Kameraden packten ihn und zogen ihn in Sicherheit.
Das Schiff drehte weiter, bis die Küste wie in einem wilden Reigen am Bugspriet und der grazilen Galionsfigur vorbeizutanzen schien.
«Mehr Leute an die Luv-Fockbrassen! Schreiben Sie den Mann auf, Mr. Slade! Lassen Sie den Anker festzurren Beeilung jetzt!»
Pallisers Stimme war überall. Als der Anker tropfend unter dem Kranbalken hing und schnell beigeholt und festgezurrt wurde, damit er nicht gegen die Bordwand schlug, wurden die damit beschäftigten Leute von Pallisers alles übertönendem Sprachrohr schon wieder anderswohin kommandiert.»Setzt Fock und Großsegel!»