Noch ehe die Besichtigung der beiden Räume und die ändern Verhandlungen beendet waren, war meine Mittagszeit abgelaufen, und ich mußte in mein Geschäft gehen. Ich empfahl mich und überließ ihn der Tante. Als ich am Abend wiederkam, erzählte sie mir, der Fremde habe gemietet und werde dieser Tage einziehen, er habe nur darum gebeten, seine Ankunft nicht polizeilich zu melden, da ihm, einem kränklichen Mann, diese Formalitäten und das Herumstehen in Polizeischreibstuben und so weiter unerträglich seien. Ich erinnere mich noch genau daran, wie das mich stutzig machte und wie ich meine Tante davor warnte, auf diese Bedingung einzugehen. Gerade zu dem Unvertrauten und Fremden, das der Mann an sich hatte, schien mir diese Scheu vor der Polizei allzu gut zu passen, um nicht als verdächtig aufzufallen. Ich legte meiner Tante dar, daß sie auf dies ohnehin etwas eigentümliche Ansinnen, dessen Erfüllung unter Umständen recht widerliche Folgen für sie haben könne, einem völlig Fremden gegenüber unter keinen Umständen eingehen dürfe. Aber da stellte sich heraus, daß die Tante ihm die Erfüllung seines Wunsches schon zugesagt hatte und daß sie überhaupt sich von dem fremden Menschen schon hatte einfangen und bezaubern lassen; denn sie hat niemals Mieter aufgenommen, zu denen sie nicht in irgendein menschliches, freundliches und tantenhaftes oder vielmehr mütterliches Verhältnis treten konnte, was denn auch von manchen früheren Mietern reichlich ausgenützt worden ist. Und in den ersten Wochen blieb es denn auch so, daß ich an dem neuen Mieter mancherlei auszusetzen hatte , während meine Tante ihn jedesmal mit Wärme in Schutz nahm.
Da diese Sache mit dem Unterlassen der polizeilichen Meldung mir nicht gefiel, wollte ich wenigstens erfahren, was die Tante über den Fremden, über seine Herkunft und Absichten wisse. Und da wußte sie schon dies und jenes, obwohl er nach meinem Weggang um Mittag nur noch ganz kurz dageblieben war. Er hatte ihr gesagt, er gedenke sich einige Monate in unserer Stadt aufzuhalten, die Bibliotheken zu benutzen und die Altertümer der Stadt anzusehen. Eigentlich paßte es der Tante nicht, daß er nur für so kurze Zeit mieten wollte, aber er hatte sie offenbar schon für sich gewonnen, trotz seinem etwas sonderbaren Auftreten. Kurz, die Zimmer waren vermietet, und meine Einwände kamen zu spät.
Warum hat er das wohl gesagt, daß es hier so gut rieche? fragte ich.
Da sagte meine Tante, welche manchmal recht gute Ahnungen hat: Das weiß ich ganz genau. Es riecht hier bei uns nach Sauberkeit und Ordnung und nach einem freundlichen und anständigen Leben, und das hat ihm gefallen. Er sieht aus, wie wenn er daran nicht mehr gewöhnt wäre und es entbehrt hätte.
Nun ja, dachte ich, meinetwegen. Aber, sagte ich, wenn er an ein ordentliches und anständiges Leben nicht gewöhnt ist, wie soll dann das werden? Was willst du machen, wenn er unreinlich ist und alles verdreckt oder wenn er zu allen Nachtstunden besoffen heimkommt?
Das werden wir ja sehen, sagte sie und lachte, und ich ließ es gut sein.
Und in der Tat waren meine Befürchtungen unbegründet. Der Mieter, obwohl er keineswegs ein ordentliches und vernünftiges Leben führte, hat uns nicht
belästigt noch geschädigt, wir denken noch heute gerne an ihn. Im Innern aber, in der Seele, hat dieser Mann uns beide, die Tante und mich, doch sehr viel gestört und belästigt, und offen gesagt, bin ich noch lange nicht mit ihm fertig. Ich träume nachts manchmal von ihm und fühle mich durch ihn, durch die bloße Existenz eines solchen Wesens, im Grunde gestört und beunruhigt, obwohl er mir geradezu lieb geworden ist.
Dann erschien er selbst, und es begann die Zeit, in der ich diesen sonderbaren Mann allmählich kennenlernte. Anfangs tat ich von meiner Seite nichts dazu. Obwohl ich mich für Haller von der ersten Minute an, in der ich ihn sah, interessierte, tat ich in den ersten paar Wochen doch keinen Schritt, um ihn anzutreffen oder ins Gespräch mit ihm zu kommen. Dagegen habe ich allerdings, dies muß ich gestehen, schon von allem Anfang an den Mann ein wenig beobachtet, auch zuweilen während seiner Abwesenheit sein Zimmer betreten und überhaupt aus Neugierde ein klein wenig Spionage getrieben.
Über das Äußere des Steppenwolfes habe ich einige Angaben schon gemacht. Er machte durchaus und gleich beim ersten Anblick den Eindruck eines bedeutenden, eines seltenen und ungewöhnlich begabten Menschen, sein Gesicht war voll Geist, und das außerordentlich zarte und bewegliche Spiel seiner Züge spiegelte ein interessantes, höchst bewegtes, ungemein zartes und sensibles Seelenleben. Wenn man mit ihm sprach und er, was nicht immer der Fall war, die Grenzen des Konventionellen überschritt und aus seiner Fremdheit heraus persönliche, eigene Worte sagte, dann mußte unsereiner sich ihm ohne weiteres unterordnen, er hatte mehr gedacht als andre Menschen und hatte in geistigen Angelegenheiten jene beinah kühle Sachlichkeit, jenes sichere Gedachthaben und Wissen, wie es nur wahrhaft geistige Menschen haben, welchen jeder Ehrgeiz fehlt, welche niemals zu glänzen oder den andern zu überreden oder recht zu behalten wünschen.