»Einverstanden?«
Der Patron warf einen Blick auf die Endziffer. »Ich bin doch nicht verrückt?«
»Einverstanden?« fragte Ravic noch einmal.
»Wer sind Sie überhaupt? Was mischen Sie sich hier ein?«
»Ich bin der Bruder«, sagte Ravic. »Einverstanden?«
»Plus zehn Prozent Service und Steuer. Sonst nicht.«
»Gut.« Ravic fügte die Zahl hinzu. »Sie haben zweihundertzweiundneunzig Frank zu zahlen«, sagte er zu der Frau.
Sie nahm drei Hundert-Frank-Scheine aus der Tasche und gab sie dem Wirt, der sie nahm und sich zum Gehen wandte. »Um sechs Uhr muß das Zimmer geräumt sein. Sonst rechnet es für einen andern Tag.«
»Acht Frank zurück«, sagte Ravic.
»Und der Concierge?«
»Den zahlen wir selbst. Die Trinkgelder auch.«
Der Wirt zahlte mürrisch acht Frank auf den Tisch. »Sales etrangers«, murmelte er und verließ das Zimmer.
»Der Stolz mancher französischer Hoteliers besteht darin, daß sie die Fremden hassen, von denen sie leben.« Ravic bemerkte den Hausknecht,
der mit einem Trinkgeldgesicht noch an der Tür stand. »Hier...«
Der Valet besah den Schein zuerst. »Merci, Monsieur«, erklärte er dann und ging.
»Jetzt kommt noch die Polizei, und dann kann er abgeholt werden«, sagte Ravic und sah die Frau an. Sie saß still in der Ecke zwischen den Koffern in der leise einfallenden Dämmerung. »Wenn man tot ist, ist man sehr wichtig... wenn man lebt, kümmert sich niemand.«
Er sah die Frau noch einmal an. »Wollen Sie nicht hinuntergehen? Es muß unten so etwas wie ein Schreibraum sein.« Sie schüttelte den Kopf.
»Ich kann mit Ihnen gehen. Ein Freund von mir kommt her, um die Sache mit der Polizei zu erledigen. Doktor Veber. Wir können unten auf ihn warten.«
»Nein. Ich möchte hierbleiben.«
»Sie können nichts tun. Warum wollen Sie hierbleiben?«
»Ich weiß nicht. Er... wird nicht mehr lange dasein. Und ich bin oft... er war nicht glücklich mit mir. Ich war oft fort. Jetzt will ich hierbleiben.«
Sie sagte das ruhig, ohne Sentimentalität.
»Er weiß nichts mehr davon«, sagte Ravic.
»Das ist es nicht...«
»Gut. Dann werden Sie hier etwas trinken. Sie brauchen das.«
Ravic wartete nicht auf Antwort. Er klingelte. Der Kellner erschien überraschend schnell. »Bringen Sie zwei große Kognaks.«
»Hierher?« »Ja. Wohin sonst?«
»Sehr wohl, mein Herr.«
Der Kellner brachte zwei Gläser und eine Flasche Courvoisier. Er blickte in die Ecke, wo das Bett weiß in der Dämmerung schimmerte. »Soll ich Licht machen?« fragte er.
»Nein. Aber Sie können die Flasche hierlassen.«
Der Kellner stellte das Tablett auf den Tisch und verschwand mit einem zweiten Blick auf das Bett, so rasch er konnte.
Ravic nahm die Flasche und goß die Gläser voll. »Trinken Sie das. Es wird Ihnen guttun.« Er erwartete, daß die Frau sich weigern würde und er ihr zureden müsse. Aber sie trank das Glas ohne Zögern aus.
»Ist in den Koffern, die Ihnen nicht gehören, noch etwas Wichtiges?«
»Nein.«
»Etwas, das Sie behalten möchten. Das nützlich für Sie ist? Wollen Sie nicht nachsehen?«
»Nein. Es ist nichts drin. Ich weiß es.«
»Auch nicht in dem kleinen Koffer?«
»Vielleicht. Ich weiß nicht, was er darin hatte.«
Ravic nahm den Koffer, stellte ihn auf einen Tisch am Fenster und öffnete ihn. Ein paar Flaschen; etwas Wäsche; ein paar Notizbücher; ein Kasten mit Wasserfarben; einige Pinsel, ein Buch; in einem Seitenfach der Segeltuchmappe, in Seidenpapier gewickelt, zwei Geldscheine. Er hielt sie gegen das Licht. »Hier sind hundert Dollar«, sagte er. »Nehmen Sie das. Davon können Sie eine Zeitlang leben. Den Koffer werden wir zu den Ihren stellen. Er kann ebensogut Ihnen gehört haben.«
»Danke«, sagte die Frau.
»Es ist möglich, daß Sie das alles jetzt scheußlich finden. Aber es muß getan werden. Es ist wichtig für Sie. Es gibt Ihnen ein Stück Zeit.«
»Ich finde es nicht scheußlich. Ich hätte es nur nicht selbst tun können.«
Ravic schenkte die Gläser voll. »Trinken Sie das noch.«
Sie trank das Glas langsam aus. »Besser?« fragte er.
Sie sah ihn an. »Nicht besser und nicht schlechter. Gar nichts.«
Sie saß undeutlich in der Dämmerung. Manchmal huschte der rote Schein einer Leuchtreklame über ihr Gesicht und ihre Hände. »Ich kann nichts denken«, sagte sie, »solange er da ist.«
Die beiden Ambulanzgehilfen schlugen die Decke zurück und schoben die Bahre neben das Bett. Dann hoben sie den Körper hinüber. Sie taten es rasch und geschäftsmäßig. Ravic stand dicht neben der Frau für den Fall, daß sie ohnmächtig werden würde. Bevor die Gehilfen den Körper zudeckten, bückte er sich und nahm die kleine hölzerne Madonna vom Nachttisch. »Ich glaubte, das gehört Ihnen«, sagte er. »Wollen Sie es nicht behalten?«
»Nein.«
Er gab ihr die Figur. Sie nahm sie nicht. Er öffnete den kleinen Koffer und legte sie hinein.
Die Ambulanzgehilfen deckten ein Tuch über den Leichnam. Dann hoben sie die Bahre auf. Die Tür war schmal, und der Korridor draußen war nicht breit. Sie versuchten hindurchzukommen, aber es war unmöglich. Die Bahre stieß an.
»Wir müssen ihn herunternehmen«, sagte der ältere. »Wir kommen nicht um die Ecke mit ihm.«
Er sah Ravic an. »Kommen Sie«, sagte Ravic zu der Frau. »Wir können unten warten.«